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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE

auch alles, was er mit seinen Freunden in den vergangenen fünf Jahren vom
Leben erwartete, so vor allem Wirkungsmöglichkeiten, Selbstbehauptung,
seine Fähigkeiten im aktiven Handeln entfalten zu können, mit einem Wort
das in der Geniezeit ersehnte grenzenlose Leben.

Das Höchste hat er jain diesem Zusammenhang 1774/75 in Frankfurt nur
in seinem zweiten Leben, wie er später einmal die Dichtung genannt hat,’
erreicht. Jetzt sei die Zeit gekommen zu sein, vom zweiten Leben endlich den
entscheidenden Schritt zum ersten zu machen.

Auf diesem neuen Weg wurde freilich — wie er selber sagte - „die Schrift¬
stellerey dem Leben unter(ge)ordnet“. Literarische Pläne größeren Umfangs
wurden folgerichtig erst 10-15 Jahre später, vor allem in Italien (1786-1788)
und mit Sicht auf die Erscheinung der ersten Werkausgabe (1788-1790) voll¬
endet. Etwas Weniges an Lyrik wird nur noch geleistet, einige Verse aus der
Gattung, die im CEuvre großer Sprachkünstler das Neue an Empfindungen am
schnellsten und äußerst sensitiv reflektiert. Möglicherweise auch schneller als
es dem Künstler bewusst war.

Der Leser wird dabei mit nagelneuen lyrischen Attitüden überrascht. Man
begegnet schon im ersten Jahr nur noch lauter Fragen, und zwar echte Fragen,
nicht mehr die rhetorischen aus der Zeit des Sturmliedes und des Prometheus.
„Willst du immer weiterschweifen?“ lautet nun eine der vielen. Der Fahrgast in
der Postkutsche hätte 1772-1774 gewiss mit einem entschiedenen „Ja“ geantwor¬
tet. Jetzt folgt die leise Ablehnung mit dem Wort: „Sieh das Gute liegt so nah!“

Ähnlich sind auch die vielen unschlüssig schwebenden Entweder-Oder¬
Strukturen in den Versen. Außerdem wird im Gegensatz zum einstigen Stür¬
men und Drängen plötzlich auch der „süße“, der „stille Friede“ des Öfteren
verherrlicht, sogar das Wort „Schicksal“ wird nun stellvertretend für objektive
Wirklichkeit bzw. für die unausweichliche Notwendigkeit hoch anerkannt. Im
ersten Leben schienen somit die Wege der Menschen doch nicht grenzenlos
gewesen zu sein. Will man darin schöpferisch handelnd der jeweils bestmög¬
lichen Leistung weiterhin treu bleiben, müsse man auf das absolute Freiheits¬
verlangen der jungen Titanen verzichten. So finden die Modalitäten des neuen
Lebensweges allmählich wieder Eingang in die Dichtung, d. h. ins zweite
Leben.

Die Bilanz wird erst 10 Monate nach der Ankunft in Weimar bereits in einem
neuen Lebensfahrtgedicht unter dem Titel Seefahrt bewusst zum Ausdruck
gebracht. Unter dem Zwang der Sturmböen experimentiert darin der Segler
mit kluger Zick-Zack-Fahrt, um die — wie es da heift — ,,gottgesandte Wechsel¬
winde [...] leise [...] zu tiberlisten.“ Hinzugefiigt lautet die ethische Konsequenz:

Treu dem Zweck auch auf dem schiefen Wege.

° Goethe, Aus meinem Leben, S. 288.

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