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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE

bewegt, also alles, was wir in der erlebten Wirklichkeit kennen. Ob noch mehr?
Möglicherweise auch alles, was wir, Diesseitsmenschen, uns darüber hinaus
nur erdenken, vorstellen und erahnen mögen, ja woran wir unter Umstánden
auch nur zu glauben im Stande sind.

Freilich wird man die Bedeutungs- und Konnotationsvielfalt verschiedener
Wegverstándnisse im Alltag kaum nachempfinden, bemüht man sich doch mit
diesen, immer möglichst nur eine einzige genau umrissene Bedeutung auszu¬
drücken. Umso mehr aber kann man die riesige Spannweite zwischen den
Bedeutungsfeldern dieses Wortes in manchen erstklassigen deutschen Sprach¬
kunstwerken erleben, ja durchgueren.

Gestatten Sie mir, dass ich Sie hierzu vorerst an zwei Gedichte des jungen
Goethe erinnere und mich anschließend der Vielfalt seiner Wege zwischen
Poesie und Wirklichkeit in den frühklassischen Jahren zuwende.

Wie für unsere Tagung geschaffen kreuzen sich in Goethes Sturmlied un¬
zählige Wege. Vor allem verflechten sich da alle möglichen Realien eines tat¬
sächlich erlebten eiskalten stürmischen Weges im Frühjahr 1772 irgendwo um
Frankfurt, jedenfalls weit entfernt von jedem möglichen Obdach mit Stim¬
mungen und Vorstellungen der aktuellsten geistigen Wege des jungen Genies.
Ich zitiere daraus einige Verse aus dem ersten Teil. Achten Sie bitte dabei auf
die simultane Ansprache der beiden Wege:

Wen du nicht verlässest, Genius,
Nicht der Regen, nicht der Sturm
Haucht im Schauer übers Herz.
Wen du nicht verlässest, Genius,
Wird dem Regengewölk,

Wird dem Schloßensturm
Entgegensingen,

Wie die Lerche,

Du da droben.

[...]

Umschwebet mich, ihr Musen, Ihr, Charitinnen!
Das ist Wasser, das ist Erde,

Und der Sohn des Wassers und der Erde,

Uber den ich wandle

Göttergleich.

[...]

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