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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE

divergierten nämlich die rezeptionshistorischen Interessen in Ungarn äußerst
schnell. Der jeweiligen Dominanz der verschiedenen Entwicklungstendenzen
und weltanschaulichen Positionen entsprechend änderte sich selbstverständ¬
lich auch der Stellenwert des direkten und indirekten Einflusses der jeweiligen
Muster. Besetzte zwar Goethe vor und nach 1800 im literarischen Rezeptions¬
gefüge Ungarns recht starke Positionen, so blieb aber auch die trivialpoetische
Orientierung auf dem deutschen Literaturmarkt unerschüttert und gleich¬
zeitig begann auch Schillers Wirkung in immer breiteren Kreisen zuzunehmen.

Kazinczy machte natürlich mit seinem Goethe-Maßstab auch auf die kom¬
menden Generationen einen tiefen Eindruck, aber nach 1820 war das poetische
Goethe-Werk an sich in der ungarischen Poesiegeschichte bis zur Jahrhundert¬
mitte nie wieder so tief verankert. Gewiss hat man manche Gedichte von ihm
ins Ungarische übersetzt und auch Goethes Faust wirkte in mancher Hinsicht
auf Vörösmartys Csongor und Tünde," wie dies von István Fried nachgewie¬
sen wurde." Umso schlimmer fiel Petőfis Faust- und Goethe-Kritik im Jahre
1847 aus.‘®

Goethes nachhaltige Rezeption erschöpfte sich nach Kazinczy bis um die
Jahrhundertmitte vor allem in theoretischen Bezugnahmen auf seine Aussagen
und Werke. Bajzas und Toldys Abwendung von der früheren romantisch mo¬

6° Dieses aussagekräftige, sprachlich-stilistisch virtuose Märchendrama des bedeutendsten
ungarischen Romantikers in der Goethezeit gehört bis zur Gegenwart zu den beliebtesten
ungarischen Dramen auf den ungarischen Bühnen. Laut kritischer Ausgabe von 1989 (Vörös¬
marty, Mihály: Összes müvei [Sämtliche Werke]. Bd. 9, Budapest: Akadémiai Kiadó S. 882)
war es von 1904 bis 1989 in zwei ungarischen Ubersetzungen und sieben Ausgaben zuganglich,
allerdings war den Herausgebern die poetisch hervorragende deutsche Nachdichtung dieses
Dramas von Franz Fühmann [von 1984?] noch nicht bekannt. Sie konnte damals auch nur
noch mit folgenden Angaben als Manuskript gelesen werden: Mihäly Vörösmarty: Csongor
und Tünde. Ein romantisches Märchenspiel. Nachdichtung von Franz Fiihmann. Nach einer
Ubersetzung von Paul Karpati. Berlin: Henschelverlag, [1984?], 110 S. Ob dieser Text seither
gedruckt worden sei, ist mir bis dato unbekannt.

Fried, Istvan: ,,Es irrt der Mensch, solang er strebt ...“ Abschnitt einer Analyse des Csongor
und Tünde. In: Rezeption der deutschen Literatur in Ungarn. 1800-1850. 2. Teil. Zeitschrif¬
ten und Tendenzen. Hg. v. Tarnö6i, Läszlö: S. 7-33. (= Budapester Beiträge zur Germanistik,
1987, Bd. 18)

In Petöfis neuntem Reisebrief an Frigyes Kerényi vom 6. 7. 1847 sind z. B. die folgenden Wor¬
te zu lesen: ,,[...] Ich hatte Goethes Faust in der Tasche. Was tun? — schrie ich bei mir auf,
fluchen oder in Ohnmacht fallen? Du weißt es mein Freund, und solltest du es nicht wissen,
so wisse es, dass ich Goethe nicht mag, dass ich ihn nicht leide, dass ich ihn verabscheue, dass
er mich anekelt wie Meerrettich mit Sahne. Der Kopf dieses Menschen war Diamant ... sein
Herz aber Kieselstein ... ja nicht einmal das, gibt doch der Kieselstein Funken. Goethes Herz
war Lehm, nichts weiter als ganz gemeiner Lehm; es war feuchter Lehm, als er seinen blöden
Werther schrieb, danach trockener, harter Lehm. Ich mag so einen Gesellen nicht. In meinen
Augen gilt ein jeder Mensch so viel, als sein Herz wert ist ... Ein flammendes Herz, ein flam¬
mendes Herz! oder das kalte Grab! [...] Goethe ist einer der größten Deutschen, Goethe ist ein
Riese, aber eine riesenhafte Statue.“ In: Petöfi Sändor: Összes prózai művei és levelezése
[Samtliche Prosawerke u. Korrespondenz]. Budapest: Szépirodalmi Könyvkiadó, 1974, S. 296.
(Ubers. v. L. T.)

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