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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE

verschiedenen Unterhaltungsstücken und Singspielen sowie in einem endlosen
Angebot auf fliegenden Blattern begegnete. Deren diverse Tendenzen reichten
von den im zeitgenössischen geistigen Leben bereits längst anachronistisch
gewordenen und bereits seit einem halben Jahrhundert kontinuierlich tradier¬
ten aufgeklärt lehrhaften und/oder witzigen und verspielten Texten und ihren
vielfach variierten Nachahmungen bis zu der in urbanen Leserkreisen damals
für höchst modern empfundenen sentimentalen Dichtung.

Selbstverständlich konnten sich auch die Dichter des Königreichs um und
nach 1800 deren starke Wirkung nicht erwehren. Sie wollten es ja auch nicht.
Es war damals wie heute auch schwierig im jeweils gegenwärtigen Angebot
der Kultur zwischen wahrem Wert und leerem Modekitsch bzw. bereits billig
gewordener Gebrauchtware Grenzen zu ziehen. Und tatsächlich glänzten
damals in dieser unvorstellbaren Menge von Liedern auch manche wahren
Perlen bravouröser poetischer Leistungen. So zollten die Ungarn um und nach
1800 mit besonderer Vorliebe der deutschen Empfindsamkeit, wie unter ihnen
z. B. Däniel Berzsenyi und der junge Ferenc Kölcsey, aber nicht minder den
deutschen Rokoko-Scherzen, wie etwa Mihäly Csokonai Vitez oder Mihäly
Fazekas, wobei ihre deutschen Muster nach meinen Recherchen wesentlich
breiter sein dürften, als dies in manchen hungarologischen Arbeiten lediglich
mit den Schweizern Matthisson und Salis-Seewis vorausgesetzt wird, stand ja
den Ungarn das enorme lyrische Angebot von der Schweiz bis zur Nord- und
Ostsee des Matthias Claudius und des Theobul Kosegarten zur Verfügung ¬
sowie aller Almanache, Modeblätter und Flugschriften jener Zeit meistens
ohne Verfassernamen.

Dass dabei manche sentimentalen und Rokoko-Varianten der jeweiligen
— oft Jahrzehnte lang strapazierten — deutschen Almanach- oder Flugblatt¬
Quellen mit den ungarischen Adaptationen mehr oder weniger an poetischem
Niveau gewannen, dürfte einerseits der besonderen poetischen Begabung der
genannten ungarischen Dichter zu verdanken sein, andererseits aber auch
damit zusammenhängen, dass die entlehnten, bereits zu poetischen Schema¬
ta gesunkenen Iyrischen Strukturen aus der deutschen Literatur allein durch
ihre Erscheinung in einer anderen, in der ungarischen Sprache, meistens auch
durch ihre erste Erprobung darin gleichzeitig auch die für jedes Kunstwerk
unerlässliche Originalität nachempfinden ließen.

Man braucht dazu nur die in der ungarischen Poesie bis dahin unbekann¬
te, wendig verspielte Eleganz in Mihäly Fazekas’ Gedicht A gröfneva lett ker¬
tészledny (Die zur Gräfin gewordene Gärtnermagd) mit den abgedroschenen
deutschen Vorlagen auf fliegenden Blättern mit dem Versanfang Sollt ich eine
Gräfin seyn zu vergleichen°” oder die vielen burschikos-saloppen Flugblattlied¬

® Siehe dazu Tarnói, László: Parallelen, Kontakte, Kontraste. [Kap. 8/1: Flugblattliedvarianten
der unbekannten deutschen Quelle einer Nachdichtung von Mihäly Fazekas.] Budapest: ELTE,
1998, S. 267-278.

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