BEGEGNUNGEN MIT DER DEUTSCHEN LITERATUR
Diskursen, Erwartungen bzw. Zwangen entsprechen sollen oder gar miissen,
wobei das historisch entstandene Kunstwerk mehr oder weniger zum Medium
werkfremder Vorstellungen und Ideen degradiert wird."
DiE REZEPTIONSOFFENHEIT DER UNGARN FÜR DIE DEUTSCHE
LITERATUR DER GOETHEZEIT
Tendenzen und Begegnungen
1.
Das Königreich Ungarn war in seiner ganzen Geschichte weder früher noch
spáter so offen für die produktive Aufnahme von Werten einer fremden Kultur,
wie in diesen sieben Jahrzehnten für das unter ásthetisch-poetischen sowie
literatursoziologischen Aspekten äußerst reiche und breite Angebot der deut¬
schen Literatur der Goethezeit.
Die Voraussetzungen für zunehmende deutsch-ungarische Rezeptionsvor¬
gänge waren damals von Anfang an besonders günstig. Die Zahl der lesekun¬
digen und leseinteressierten Bürger nahm in keiner Zeit in dem Maße zu wie
im ausgehenden 18. Jahrhundert. Mit der Pressefreiheit ab 1784 wurden die
Schleusen einer breit aufgefächerten aufgeklärten Lesekultur geöffnet, und sie
konnten 1794 auch mit den Anordnungen der strengsten Zensurmaßnahmen
in Österreich und in Ungarn nicht wieder dicht gemacht werden. Wer im
Königreich um 1800 lesen und schreiben konnte, tat dies dabei damals vor
allem deutsch, waren ja seinerzeit nicht nur die Städte größtenteils deutsch¬
sprachig,’” sondern auch ein erheblicher Teil des ungarischen Adels bediente
sich eher des Deutschen als des Ungarischen."
16 Ich erlebte z. B. in den 50-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wáhrend meiner germa¬
nistischen Studienzeit, wie der ungarische Regisseur des Wilhelm Tell auf die Anfrage, warum
er die Parricida-Szene aus dem Drama des deutschen Klassikers gestrichen habe, etwas in¬
digniert behauptete, die Szene gehöre überhaupt nicht in das Drama, Schiller habe sie nur den
Damen des Weimarer Hofes zuliebe geschrieben und falls man ihn (d. h. den ungarischen
Regisseur) der Feigheit beschuldigen wolle, so erinnere er seine Kritiker nur an das riesige
Kreuz, das im Hintergrund seiner Riitli-Szene stand. Ob solcherart komplexe Beziehungen
aus der nicht einmal allzu fernen Vergangenheit zum urspriinglichen Schiller-Text heute noch
jemandem verstandlich seien? Heutzutage sind die vielen Anachronismen und die kontinuier¬
lich zunehmenden werkfremden ideologischen „Zugaben“ seitens der jeweiligen Interpreten
gewiss verständlicher, aber unter literaturhistorischen und ästhetischen Aspekten umso mehr
problematisch.
Z. B. war die größte urbane Region des Königreichs mit Ofen, Pest und Altofen im Jahre 1813
bis um 80-90% deutschsprachig. Siehe dazu Schnittpunkte, Bd. 1, S. 39-45.
Vgl. dazu Arndt, Ernst Moritz: Erinnerung an Ungern. Ein kleines Anhängsel. In: E.M. Arndts
Reisen durch einen Theil Teutschlands, Ungarns, Italiens und Frankreichs in den Jahren 1798
und 1799. Erster Theil. Zweite verbesserte und vermehrte Auflage. Leipzig: Heinrich Gräff,
1804, S. 294. Siehe auch Deutschsprachige Texte aus Ungarn Bd. 3, S. 241; Schnittpunkte, Bd.
1, 5. 20-24.