LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE
begann, mit Schillers Wilhelm Tell, nicht anders als mit dem Tyrannenmörder
Caius Cassius und dem Jakobiner Camille Desmoulins.“
Vollendete Werke im Spiegel endloser Werkverstandnisse
Viele Wege führen im Reich der Erkenntnisse literarischer Phänomene zum
adäquaten Verständnis, setzen sie jain Zeit und Raum sowie in der individu¬
ellen Vorstellungswelt meistens grundverschiedene Ausgangspunkte, Erleb¬
nisgrundlagen bzw. ideologische Positionen der jeweiligen Adressaten voraus.
So liegen zwar die einzelnen Werke nach vollendeter Laufbahn ihrer Verfasser
stets unverändert vor, aber schier unendlich ist die Zahl der Zugänge zu ihnen,
wie auch die möglichen Ansichten über sie natürlich kein Ende haben, müssen
diese ja im Prozess fortwährender Bildung poetischer Wertvorstellungen von
jedem Zeitalter, ja sogar von jedem einzelnen Menschen immer wieder neu
erworben werden.
Ohne diese Zugänge und Ansichten sind die Werke eigentlich sinn- und
leblos. Jedes Werk, die vollendete Botschaft von einem Autor, lebt ja nur, wenn
es, wie auch immer, seine Adressaten, die Empfänger” erreicht - je mehr
Adressaten in Raum und Zeit, bei je mehr persönlichen, unter Umständen
bildungshistorisch, soziologisch oder gar methodologisch divergenten Aspek¬
ten, umso bunter und vielfältiger wird dieses Leben.
Begegnungen von Absendern und Adressaten gibt es freilich nicht nur in
einzelnen belletristischen Botschaften, sondern auch in ganzen CEuvres von
Autoren, ja sogar in Werken, Tendenzen und ganzen Epochen verschiedener
Nationalliteraturen, so z. B. auch in den historischen Begegnungen Ungarns
mit der deutschen Kultur der Goethezeit.
Man kann selbstverstandlich nur verstehen, was man dank seiner Begabung,
seiner Erfahrungen und Erlebnisse sowie der eigenen Bildung zu begreifen
fähig ist. Schon deren Vielfalt führt zum bunten Kaleidoskop unendlich vieler
„Bilder“ u. a. von Schillers Wilhelm Tell und Goethes Faust. Unter literatur¬
historischen Aspekten mag die Prägung der „Bilder“, d. h. der Lesarten, der
Narrative bzw. der Interpretationen allerdings problematischer werden, wenn
diese außer dem subjektiv freilich jeweils begrenzten Zugang des Interpreten
zum Untersuchungsgegenstand auch verschiedenen aktuellen Interessen,
4 Rohübersetzung: „[...] In Rom war ich Cassius, / In Helvetien Wilhelm Tell, / In Paris Camil¬
le Demoulins ... / So könnt ich auch hier noch zu etwas bringen.“ In: Sandor Petőfi: Halhatatlan
lelek [Unsterbliche Seele]. Pest, November, 1846.
15 D.h. die Leser, die Kritiker, die Literaturwissenschaftler sowie das Publikum im Theater bzw.
die jeweilige Zuhörerschaft