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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE

Die verschiedenen Vorstellungen von den deutschen Dichtern und Werken
der Goethezeit wurden freilich im Laufe ihrer literarischen Rezeptionsge¬
schichte im In- und Ausland nicht ausschließlich von den unmittelbaren Le¬
sererlebnissen geprägt. Sie wurden kontinuierlich auch von verschiedenen
Schriften über sie (in Literaturgeschichten, Kritiken etc.) beeinflusst‘. Zum
Dichterbild haben manchmal sogar belletristische Werke späterer Zeiten bei¬
getragen. Friedrich Hölderlin, den man in aller Welt schon immer als einen
Repräsentanten der deutschen Klassik und/oder der Romantik gelesen hat,
erschien z. B. um 1970 in der rezeptionshistorischen Erinnerung der Europä¬
er plötzlich als ein echter Jakobiner, nachdem das Hölderlin-Drama des
Deutschschweden Peter Weiss (inspiriert u. a. von dem französischen Germa¬
nisten Pierre Berteaux°) auf den europäischen Bühnen in der jeweiligen
Landessprache zu erleben war.°

Die Variationen der Dichterbilder wichen aber des Öfteren nicht nur his¬
torisch, sondern auch regional im hohen Maße voneinander ab: Unter unserem
Aspekt ist es besonders auffallend, dass man Schiller in Deutschland (dank
dem Erlebnis seiner schöpferischen Zusammenarbeit mit dem Weimarer
Dichterfürsten von 1794 bis 1805) anderthalb Jahrhunderte hindurch mit einer
undiskutablen Eindeutigkeit der deutschen Klassik zuordnete, in Ungarn da¬
gegen als einen par excellence Romantiker erlebte, dessen Dramen, Gedichte
und theoretische Schriften bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Ent¬
wicklung aller Tendenzen und Phasen der ungarischen Romantik — deutsch
wie auch bereits ungarisch — mitbestimmt haben.”

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Die Ansichten über die Dichtern wurden in besonderem Maße auch vom jeweiligen Schul¬
unterricht beeinflusst.

Siehe dazu folgende Publikationen von P. Berteaux: 1. Hölderlin und die Französische Revolu¬
tion. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1969. 187 S; 2. Hölderlin und die Beziehungen der
deutschen Intelligenz zum Jakobinertum. Sinn und Form Jg. 22 (1970), S. 873-912; 3. War
Hölderlin Jakobiner? In: Hölderlin ohne Mythos. Hg. v. Ingrid Riedel. Göttingen: Vandenhoeck
& Ruprecht, 1973, S. 7-17. Vgl. dazu auch L. T.: Elidegenedes &s romantika. Tendenciäk es
tävlatok a nemet romantika mai kutatäsäban [Entfremdung und Romantik. Tendenzen und
Perspektiven in der gegenwärtigen Forschung der deutschen Romantik.] In: Helikon. Vilägi¬
rodalmi Figyelö Jg. 21 (1975) Nr. 3/4, S. 407-421.

Unmittelbar nach der deutschen Uraufführung dieses Dramas (1971) wurde es z. B. ins Unga¬
rische übersetzt (1972) und bereits 1974 im Budapester Nationaltheater ungarisch uraufgeführt.
Dass das Romantische (was man auch darunter verstehen mag) an Schiller auch unter germa¬
nistischen Aspekten nicht unbedingt auszuschließen sei, belegen u. a. Goethes und Schillers
Selbstzeugnisse, die Schillerrezeption im Ausland, die gehaltstypologischen Parallelen in der
Lyrik Schillers und der deutschen romantischen Dichter um 1800, weiterhin z. B. der Unter¬
titel der Jungfrau von Orleans, die Tell-Kritik von Görres u. a. m. (Siehe dazu in diesem Band
die Beiträge „Romantisches und Sentimentales ...“ sowie „Schillers letzte Gedichte ...“)

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