BEGEGNUNGEN MIT DER DEUISCHEN LITERATUR
DER GOETHEZEIT IM KÖNIGREICH UNGARN
(REZEPTIONSHISTORISCHE
UND -THEORETISCHE FRAGMENTE)!
VON DER VIELFALT DER ZUGANGE ZU LITERARISCHEN
WERKEN UND WERTEN
Man sagt in der Natur gibt es keine zwei Blatter an den Baumen, die einander
gleich waren, und ich setze hinzu, noch weniger gibt es zwei Ansichten in der
geistigen Welt, die miteinander völlig übereinstimmten.
Der Franzose Jean Jacques-Antoine Ampere schrieb 1826 über Goethes
Tasso, er sei „ein gesteigerter Werther“.” Laut Eckermann war Goethe darii¬
ber hocherfreut und hat den Franzosen mit überschwänglichen Worten als
den einzigen gewürdigt, der ihn und sein Werk richtig verstanden habe. Man
fragt sich dabei, waren davor vier Jahrzehnte hindurch die vielen Leser, Zu¬
schauer und Kritiker dieses Goethe-Dramas in Europa alle im Irrtum? Und
lauter Fehlurteile bildeten auch diejenigen, die später anderthalb Jahrhunder¬
te lang in aller Welt — so unterschiedlich auch ihre Goethe-Lesarten und
Argumente ausfallen mochten -, u. a. mit Tasso und der Iphigenie Goethes
endgültigen Bruch mit Ideen, Formen und poetischen Attitüden des Sturm
und Drang und gleichzeitig seine hochklassischen Anfänge belegten? Haben
die Ungarn Ferenc Toldy (der erste Literaturhistoriker der Ungarn) und Jözsef
Bajza (Literaturtheoretiker und erster Direktor des ungarischen National¬
theaters) Goethe völlig missverstanden, wenn sie ihre eigene Entwicklung mit
ihrer allmählichen Distanzierung von ihrer früheren Begeisterung für den
deutschen Sturm und Drang sowie mit ihrer gleichzeitigen „Wendung“ zu
Goethes „Egmont, Tasso, und Iphigenie“ charakterisierten??
! Der ursprüngliche Text dieses Beitrags wurde an der IV. Internationalen Germanistentagung
der Christlichen Universität Partium in Oradea (Großwardein, Nagyvärad) im September 2010
vorgetragen. Er entstand in der Absicht, Ergebnisse jahrzehntelanger Forschungen zur Rezep¬
tionsgeschichte der deutschen Literatur um und nach 1800 in einem einzigen Vortrag so weit
wie möglich vielseitig sehen zu lassen. Das war dieses Mal auch bei geringfügiger Erweiterung
des ursprünglichen Textes nur in vorliegender fragmentarischer Form und bei Auswahl und
Hervorhebungen mancher repräsentativen Fakten, Tendenzen bzw. theoretischen Schlüsse
möglich. Den Zugang zu weiteren Informationen soll daher ausnahmsweise am Ende dieses
Kapitels eine Liste meiner einschlägigen weiteren Beiträge erleichtern, auf die ich auch in den
entsprechenden Anmerkungen zum Text kurz hinweise.
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe. In den letzten Jahren seines Lebens. Ein¬
führung und Textüberwachung v. Ernst Beutler. Zürich: Artemis-Verlag, 1948, S. 627. (= Ge¬
denkausgabe Zürich, Bd. 24)
Bajza Jözsef es Toldy Ferenc levelezese [Briefwechsel v. Jözsef Bajza u. Ferenc Toldy]. Hg. v.
Oltvänyi, Ambrus. Budapest: Akadémiai Kiadö [Akademischer Verlag], 1969, Nr. 127, S. 207.
Siehe darin vor allem den Brief von Toldy an Bajza. Pest, 1.4. 1825.