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DIE FRIEDENSBOTSCHAET DES MIKLÓS RADNÓTI — DEUTSCH

Gewiss ist einem fremdsprachigen Dichter mit jeder Rohübersetzung mehr
gedient als mit einer unzulánglichen Nachdichtung: Kein deutscher Dichter,
Literaturexperte, geschweige denn der Leser konnte in der von dem Ungarn
Endre Gáspár besorgten deutschen Nachdichtung des so bedeutenden Gewalt¬
marsches auch nur das Geringste von dessen poetischen Werten erahnen”
wodurch selbstverstándlich vorerst auch der deutsche , Empfang" der Friedens¬
botschaft von Miklós Radnóti scheitern musste. Dabei gehört gerade dieser
Nachdichter gewiss zu den Ungarn, die das Deutsche als Fremdsprache be¬
sonders gut beherrschten — aber eben lediglich als Fremdsprache, was auf
einer bestimmten Höhe für eine hervorragende Reproduktion der Sprache
ausreicht, jedoch nicht für die Beteiligung an deren produktiv-schöpferischer
Gestaltung. Lebt doch ein Gedicht u. a. von den ganz individuellen sprachlichen
Neubildungen seines Schöpfers. Endre Gäspär wusste das, versuchte es, und
er ging damit weit über seine eigenen Grenzen hinaus. Er wusste z. B. wie
jeder deutschkundige Ungar, dass im Deutschen im Gegensatz zum Ungari¬
schen weniger mit Ableitungen, vielmehr mit Zusammensetzungen neue Be¬
griffe gebildet werden. So setzte er Wörter zusammen, ohne dabei zu ahnen,
wie er sich mangels des sicheren Kompasses der Muttersprache im Labyrinth
der Möglichkeiten ganz und gar verirrte. In der so wichtigen, durch den Kon¬
text bedingt aussageschweren Zeile des Gedichtes „summen“ bei Endre Gäspär
„Friedensbienen“[|!] (bei Fühmann: „friedlich die Bienen summen“), was bei
deutschen Lesern gewiss unumgänglich mit Effekten des Komischen die „Frie¬
denstaube“ assoziiert. Am Gedichtanfang (bei Fühmann: „Verrückt ist, wer
gestürzt, sich erhebt und weiter schreitet, / Knöchel und Knie knickt, trotzend
dem Schmerz, der ihn durchschneidet“) „wandelt“ bei Gäspär ein „Schmer¬
zensmann“ |!], also ungewollt der leidende Christus. Wenn in der Vision des
Gewaltmarsches Fanny in allen späteren Übersetzungen genauso wie im Un¬
garischen „blond“ auf den Dichter wartet, so glaubte der Ungar Gäspär ver¬
mutlich, die modale Funktion dieses Adjektivs — im Ungarischen muss es
nämlich abgeleitet werden — ebenfalls nur mit einer Zusammensetzung aus¬
drücken zu können; so wartet in seiner Übertragung Fanny „blondlockig“ [!],
wodurch eine Art unpassende Verniedlichung des Bildes erfolgt. Hinzu kommt
aber auch eine Reihe von gedichtfremden umgangssprachlichen Wendungen,
besonders auffallend am Gedichtende, wo für Fühmanns „ich erhebe mich“
bei Gáspár „ich stehe auf ganz schnell“ steht.

Radnötis Friedensbotschaft konnte also ihre deutschen Adressaten erst
über die Vermittlung von deutschsprachigen Nachschöpfern erreichen.

„Versuch eines Porträts des Gelehrten und Wissenschaftsorganisators Robert Gragger" (S.
173-207).

20 Radnóti, Miklós: Gewaltmarsch. Übs. v. Endre Gáspár. In: Meilenstein. Drei Jahrzehnte im
Spiegel der ungarischen Literatur. Budapest: Corvina Verlag, 1965, S. 58.