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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE

Die hauchzarte Metaphorik des Friedens, der inneren Ausgewogenheit wird
ohne Zweifel zur aussageschwersten strukturellen Einheit des Gedichtes kom¬
primiert, und sie wird als Tráger des humanen Harmonieempfindens des
Dichters sogar der eigentliche Mittelpunkt, in dem sich das lyrische Ich mit
seinen Wertvorstellungen konstituiert; sie wird aber durch den Kontext, in
dem sie erscheint, auch die Achse des Gedichtes, um die sich die Außenwelt
dreht, eine Welt, die alles Unschuldige und Reine zu zerstören im Begriff ist.
Nach einer kurzen Atempause des Strophenwechsels folgen nämlich dem Be¬
kenntnis zum Frieden und zur Humanität, mit einem „und“ gnadenlos ein¬
schneidend und jede idyllische Schönheit der Geborgenheit zersetzend, noch
zwei Verse:

Und hart, und wie gehetzt von Hunden
Wölfe, blutend aus hundert Wunden.

Damit klingt das Gedicht erst aus, und damit erhellt und entschlüsselt sich
gleichzeitig seine einleitende düstere Metaphorik mit einer ganzen Reihe von
Bildern der Zersetzung, des Verfalls, des Schreckens, mit der Attitüde der
Kälte, des Bedrohtseins und des Todes:

Im Wald verbirgt sich Wild und Wind,
die dämmernde Allee stürzt ein
vor dir, voll Grau’n wird bleich der Stein

[...]

Eiskalte zischt vom Firmament
und auf das Gras, das rostrot brennt,
der Schatten wilder Ganse fallt.

Zum analytisch unteilbaren Ganzen gehört selbstverständlich auch der erste,
mit dem abschließenden Doppelzeiler korrespondierende Vers „Lauf nur, zum
Tod Verurteilter!“, dessen kommunikativer Wert somit erst am Gedichtende
voll erhellt wird. Welche gehaltliche Bedeutung Radnöti diesem Ausruf, mit
dem er — wie so oft in der reifen Dichtung - auch seinem persönlichen Schick¬
sal ins Auge schaute, beimaß, belegt, dass er ihn nicht nur zum Titel des Ge¬
dichtes, sondern auch des 1936 veröffentlichten neuen Gedichtbandes wählte.

*

Es ist eigentlich merkwiirdig, wie wenig dieser erstrangige moderne ungarische
Lyriker analytischer Erklärungen bedarf. Liest oder hört man beliebige Verse,
die er von der Veröffentlichung seines ersten Bandes im Jahre 1930 bis zu
seinem gewaltsamen Tod von 1944 schrieb, kann man sich nicht erwehren,

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