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VERSUCH EINES PORTRATS DES ROBERT GRAGGER

Selbstcharakteristik im Spiegel von Riickerinnerungen
an Professoren-Vorbilder

Kein Wunder also, wenn manche seiner Worte über die Professoren Heinrich
und Riedl auch zu Zeugnissen einer eigenen Selbstcharakteristik wurden. Un¬
gewollt schrieb er auch über sich, wenn er über seinen geistigen Vater, Gusztäv
Heinrich u. a. Folgendes behauptete:

Fern stehen ihm die rein spekulativen Erklärungen [...] In seinen Studien, die eine
enorme Belesenheit und eine liebevolle Vertiefung in dem Gegenstand voraus¬
setzen, entscheidet er sich auf Grund klarer Gesichtspunkte für Gedanken, die er
für richtig hält und spricht - statt einer um jeden Preis zu erzwingenden Origina¬
lität — als Ergebnis ein recht entschiedenes Urteil aus. Sein Kriterium und sein
Leitstern ist der nüchterne Verstand - und sein Weg die gradlinige Folgerung, die
jede gesuchte und spitzfindige Klügelei durchschneidet.!?

Aber auch einige begeistert skizzierte Details des Riedl-Porträts von Gragger
widerspiegeln gleichzeitig Manches von der fesselnden Methode und dem
breiten Horizont des Verfassers selbst. So z. B. wenn Gragger über Riedl Fol¬
gendes schreibt, berichtet er ungewollt auch über sich selbst:

Seine frische, unmittelbare Anschauung, der scharfe kritische Blick, sein intuitives
Denken entfalteten sich fast vor den Augen seiner Hörer. [...] Es war eines seiner
Hauptprinzipien, bei der literarischen Untersuchung die Ausdrucksform so sorg¬
fältig zu wählen, dass sie genau den Sinn und das Bild [...], Erkenntnis und Glauben
vermittle [...]. Er lehrte seine Schüler mit sorgfältiger Umsicht, die Zusammen¬
hänge der geistigen Erscheinungen zu erkennen, er lehrte sie, dass Literaturen
ebenso wie alle geistigen Erscheinungen sich niemals isoliert entwickeln, sondern
stets als Teile eines Wellenzuges zu betrachten sind [...] Mit zusammenfassenden
Gesichtspunkten wies er nach, dass die ungarische Literatur seit ihren Anfängen

ein organischer Teil der westeuropäischen gewesen ist [...]'°

*

Aber auch andere seiner Lehrer gehörten zur geistigen Prominenz des dama¬
ligen Ungarn; ihre Persönlichkeiten, ihre Vorträge und wissenschaftlichen
Arbeiten waren neben dem ausschlaggebenden Einfluss von Riedl und Heinrich
an der Entwicklung des interessierten Studenten gleichfalls beteiligt. So be¬
einflusste u. a. Lajos Katona Graggers Interesse für die Volkskunde. Gleich¬
zeitig empfing die Entwicklung seiner ästhetischen Ansichten auch von Zsolt

4 Heinrich, Gusztáv: Faust. Budapest: 1914, 258 S. Bespr. v. Gragger, Robert. In: Budapesti
Szemle, März 1915, S. 470. Aus dem Ungarischen übs. v. L. T.
15 Gragger, Robert: Friedrich Riedl. In: Ungarische Jahrbücher, 1922, Bd. 2, S. 73.

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