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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE

Hinzu kommt, dass in den abschreckenden Spiegelbergstrophen auch die
eigenartige pathetische Metaphorik des jungen Schiller bis zum unertráglich
Grotesken übertrieben wurde. Man braucht dazu nur die poetischen Bilder
der sechsten Strophe nebeneinanderzustellen: Die Opfer zucken unter dem
Beile der Ráuber (1. Bild), sie brüllen aus wie Kálber (2. Bild), sie fallen um wie
die geschlachteten Schweine" (3. Bild), was den Augenstern der Ráuber kitzelt
(4. Bild) und schließlich ihren Ohren gern schmeichelt (5. Bild). Mit solchen
Bildern war in der Unterhaltungslyrik überhaupt nichts anzufangen. Mit der
Streichung dieser Strophen wurde es jedoch möglich, die organischen Bezie¬
hungen zum Drama aufzugeben und damit die die Unterhaltung am schwers¬
ten belastenden, ganz individuellen Schiller-Metaphern zu eliminieren. Schon
durch das Weglassen dieser Strophen erhielt das Lied grundsätzlich andere
Akzente. Anstelle der abschreckenden Entfremdung und der moralischen
Distanzierung von den Räubern trat die anziehende Welt des freien und natür¬
lichen Lebens, wie sie etwa der Typus eines Rinaldo Rinaldini verkörperte. Das
Flugblattlied hob nun nicht mehr mit dem abschreckenden Vers der Erstaus¬
gabe an („Stehlen, morden, huren, balgen“), ja nicht einmal mit der gemilder¬
ten Variante der zweiten Ausgabe („Karessieren, saufen, balgen“), sondern ganz
im Gegenteil mit dem vielversprechenden Ideal des freien Lebens und dem
dadurch und darin empfangenen Gefühl der „Wonne“, ohne dabei von einem
amoralischen Verhalten im Geringsten überschattet zu sein. Ängste - wenn
solche überhaupt noch aufkamen - brauchten nicht mehr die Väter, die Müt¬
ter und die Verlobten, sondern höchstens die Reichen auszustehen. Merkwür¬
digerweise wurde allerdings der Gedanke, nach dem letzten Endes der Preis
des wonnevollen freien Lebens das Bündnis mit dem Teufel sei (in dem ersten
und weit verbreiteten Flugblatttyp wurde es besonders stark hervorgehoben),
indem es nicht nur einmal (und zwar nicht nur am Ende der dritten Strophe),
sondern auch in den Schlussversen des Liedes wichtige Akzente erhielt. Das
gruselige Teufelsbündnis hatte aber um 1800 die Freude an diesem Lied kaum
beeinträchtigt; es trug vielmehr zur spannenden Unterhaltung eines Publikums
bei, das sich des „erschröcklichen Exempels“ eines Faust bereits seit über zwei
Jahrhunderten erfreuen konnte.

Aus keiner Unterhaltungsliteratur sind „Beharrungstendenz“ bzw. „Tradi¬
tionsrelevanz“ wegzudenken: Der starke Hang am Alten und Bekannten setzt
sich in der unterhaltenden Literatur auf Kosten jedes irritierenden Modernen
und Individuellen durch.? Schillers Räuberlied und dessen mit besonders
geschickten Händen umgearbeitete unterhaltende Variante liefern dafür ein
eklatantes Beispiel: Die individuellen Beziehungen des erfolgreichen Liedes

” ‚Mucke‘ kann laut Wörterbücher u. a. ‚Mücke‘, ‚Fliege‘, ‚weibl. Schwein‘ bedeuten. Im Schiller’¬
schen Kontext ist nur letztere Bedeutung möglich und keineswegs „Fliege“, wie das in Schiller,
Berliner Ausgabe, Bd. 2, S. 861 erläutert worden ist.

® Vgl. dazu Schenda, Volk ohne Buch, S. 325-334.

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