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ersten Jahr in Weimar diesen seinen neu gebildeten Standpunkt vertrat, ver¬
anschaulichen auch die fiir die damalige Zeit typischen disjunktiven Worte,
die er sechs Monate vor der Entstehung der Seefahrt an Lavater schrieb — so¬
gar bereits die Metaphorik der Schlussverse des späteren Gedichts vorweg¬
nehmend: „Ich bin nun ganz eingeschifft auf der Woge der Welt voll entschlos¬
sen: zu entdecken, gewinnen, streiten, scheitern oder mich mit aller Ladung
in die Luft zu sprengen.“”

Nicht zu bestimmen war also lediglich das Resultat der individuellen An¬
strengungen des Menschen, der seine Persönlichkeit durchzusetzen suchte.
Natürlich widerspiegelt sich auch darin die neu konstituierte und der Sturm¬
und-Drang-Denkweise grundsätzlich widersprechende Norm, wonach jedes
Individuelle bereits einen sekundären Stellenwert in dem von nun an konsequent
erwogenen und ständig neugewerteten Objekt-Subjekt-Verhältnis einnimmt.

Gewiss gibt es in der Ausdrucksweise noch manche Beziehungen zum Stil
der Goethelyrik der Frankfurter Jahre - und zwar nicht allein durch das Bild
des „herrschenden Blicks“ gegen Ende des Gedichtes. Solche Beziehungen
lassen sich hin und wieder in den kühnen und manchmal dem Anschein nach
vollkommen ungebundenen Assoziationen, noch mehr aber in den eigenarti¬
gen syntaktischen Strukturen und ganz besonders in den charakteristischen
freien Wortbildungen des jungen Goethe wie z. B. „Einschiffsmorgen“, „Feuer¬
liebe“, „leisewandelnd“ usw. nachweisen. Doch standen Stil und Form der
Seefahrt bereits ausschließlich im Dienste der neuen Aussage und der ihr
verpflichteten dichterischen Stimmung: die poetische Darstellung war bereits
stärker komprimiert denn je zuvor und die Sprache durch die an die Stelle der
freien Rhythmen der Sturm-und-Drang-Gedankenlyrik getretenen trochäischen
Fünfheber°? gebunden.

Aus diesen Gründen sah Viktor Hehn, einer der ersten anspruchsvollen
wissenschaftlichen Interpreten der Goethe-Gedichte, in Seefahrt den „Über¬
gang eines Dichtungsstils in den andern“ und hielt sie wegen der Neigung des
Dichters, darin sprachlich-dichterisch gebundener zu werden, für ein „eigen¬
tümliches Übergangsgedicht“, wie er behauptete, zwischen „Inhaltsfülle der

Genialitätsepoche“ und der späteren „antiken rhythmischen Gebundenheit“.°*

52 Goethe an J. K. Lavater, Weimar, den 6. März 1776 (Berliner Ausgabe, Bd. 1, S. 870). (Hervor¬
hebungen L. T.)
Das Gedicht wurde nicht in freien Rhythmen geschrieben, wie dies in der Geschichte der
deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 6, S. 714 behauptet wurde. (Vgl.
dazu auch Anm. Nr. 46.) Goethe führte 1775 die trochäischen Fünfheber in die Geschichte
des deutschen Verses ein (siehe „Klaggesang von der edlen Frauen des Asan Aga“, „Warum
gabst du uns die tiefen Blicke“ und „Seefahrt“), und verwendete sie auch später mit besonde¬
rer Vorliebe in seiner Lyrik. Siehe dazu z. B. Gedichte wie „Der Becher“, „Nachtgedanken“,
„Amor als Landschaftsmaler“, „Der Besuch‘, „Morgenklagen“ und „Liebesbedürfnis“ aus den
achtziger Jahren.
54 Hehn, Viktor: Uber Goethes Gedichte. 2. Aufl. Stuttgart / Berlin: Cottasche Buchhandlung,
1912, S. 178, 182.

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