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letzten Worte des Gedichtes zu denen der ersten Strophe die Stellungnahme
des Dichters einigermaßen relativiert haben, so wurde das rast- und ruhelose
Handeln in Jägers Nachtlied als nunmehr unvertretbar dahingestellt. Dessen
entschiedene Ablehnung fand vor allem in der Antithese des von dieser Zeit
an zur Norm gewordenen „stillen Friedens“ am Gedichtende Ausdruck. Schlie߬
lich ist zu beachten, dass selbst der beinahe gleichzeitig wiederholte wider¬
spruchsvolle Umgang mit Begriffen wie rast- und ruheloses bzw. uneinge¬
schränktes Handeln und Leben sowie andererseits erhoffter Frieden und
einsichtsvolles Maßhalten stichhaltige Beweise für die neuen lyrischen An¬
sätze zu einer grundsätzlichen Abkehr von früheren Ansichten lieferte. In
diesem Zusammenhang gehört daher auch Rastlose Liebe trotz direkter Be¬
ziehungen zu den früheren Goethe’schen Sturm-und-Drang-Motiven organisch
in den Gesamtkontext der lyrischen Produkte von 1776.

Dieser fiir die erste Zeit in Weimar kennzeichnende Prozess wahrend der
kontinuierlichen Auseinandersetzung mit den früheren Anschauungen und
das damit verbundene ununterbrochene Suchen nach den neuen weltanschau¬
lichen und poetischen Positionen kamen auch im für 1776/1777 gleichfalls
typischen Motiv des Offenlassens des jeweilig zu entscheidenden disjunktiven
Entweder-Oder sowie in einer Art vorerst noch unsicherer und inkonsequen¬
ter Anerkennung des Schicksals zum Ausdruck. Diese Motive hatten in Goethes
Entwicklung um 1776 eine besondere Bedeutung, weil sie damals im krassen
Gegensatz zu den grundlegenden Thesen des Genieprogramms standen, nach
denen sich das Ideal wahrer menschlicher Ziele in erster Linie im unbegrenz¬
ten subjektiv-individuellen Handeln zu offenbaren hatte. Damit waren sie im
Prinzip den unschlüssigen Fragestrukturen nahe verwandt und neben anderen
neuen Motiven der Zeit besonders wichtige poetische Ideenträger der Ent¬
fremdung vom früheren Sturm-und-Drang-Subjektivismus. Das unschlüssige
Entweder-Oder bzw. die ersten Anzeichen für eine real mögliche Anerkennung
der dem Subjekt entgegenwirkenden, jedoch vorerst noch fremdartigen, schwer
überschaubaren objektiven Notwendigkeit - in den Gedichten der Zeit vor¬
wiegend als Schicksal apostrophiert — gehörten deshalb zu wichtigen Momen¬
ten bei der innovativen Ausbildung der neuen Normen im gehaltlich-themati¬
schen Stoff Goethe’scher Dichtung in Weimar.

Dieses dem Schicksal ergebene Entweder-Oder kam sowohl in solchen
Frage- und Antwortstrukturen, wie man ihnen in Beherzigung begegnet, zum
Vorschein, als auch in der nicht ohne Humor verfassten Antithesenserie in¬
mitten des Gedichtes Genialisch Treiben. Darin wurde eine ganze Serie von
Entweder-Oder-Gegensatzpaaren, zwischen denen man sich zu bewegen ge¬
nötigt sei, vom konkreten „Ernst“ und „Spaß“ sowie „Lieb“ und „Hass“ über
das ganz allgemeine „dies“ und „das“ bis zu den höchst abstrakten und alles
umfassenden Polaritäten eines „Nichts“ und eines „Was“ gesteigert.

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