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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE

Frankfurter Jahren vor dem 7. November 1775 typisch waren. Beim Lesen der
steigend pulsierenden jambischen Stakkatos der kurzen Verse in der ersten Stro¬
phe erlebt man erneut das titanische Ringen mit den rohen Elementen der Natur:

Dem Schnee, dem Regen,
Dem Wind entgegen,

Im Dampf der Klüfte,
Durch Nebeldüfte,
Immer zu! Immer zu!
Ohne Rast und Ruh!

Diesen folgt rhythmisch-melodisch das weich einsetzende Legato fallender
Verse, die thematisch die volle Entfaltung des Gefühllebens der leidenden
Liebe nachempfinden lassen, wobei freilich Stimmungsbeziehungen zum Mo¬
tiv der Werthersch’en Wonne der Wehmut unverkennbar sind:

Lieber durch Leiden
Möcht ich mich schlagen,
Als so viel Freuden

Des Lebens ertragen,
Alle das Neigen

Von Herzen zu Herzen,
Ach, wie so eigen

Schaffet das Schmerzen!

Auch die hohe poetische Spannung inmitten der dritten Strophe, wo die Ver¬
se des resignierten „Alles vergebens!“ und des plötzlich hochschwingenden
„Krone des Lebens“ dem Gefühlsinhalt nach den tiefsten und den höchsten
Punkt des Gedichtes mit einem Paarreim festschmieden, korrespondiert mit
den einander widersprechenden Gefühlen der früheren Liebesdichtung:

Wie soll ich fliehen?
Wälderwärts ziehen?
Alles vergebens!
Krone des Lebens,
Glück ohne Ruh,
Liebe, bist du!

Besondere Aufmerksamkeit verdienen allerdings die einleitenden Fragen in
der dritten Strophe. Dieses interrogative Motiv der eigenen Unschlüssigkeit in
der Ablehnung bzw. der Überwindung der gegebenen Situation mit der mög¬
lichen Flucht gewann in Goethes Lyrik erst seit den Liebesgedichten an Lili

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