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Schönemann vom Jahre 1775 eine allmählich zunehmende Frequenz. Man
braucht dabei nur an Gedichte wie Neue Liebe, neues Leben, An Belinden, Vom
Berge oder sogar Ich saug an meiner Nabelschnur zu denken. Diese Art un¬
entschiedene Schwebe in der jeweiligen Stellungnahme wird in den ersten
anderthalb Jahren in Weimar ein typisches Merkmal der Goethe’schen Lyrik.
Das Gedicht Beherzigung besteht z. B. bloß aus zwölf Versen, davon bilden
aber sieben je einen Fragesatz:

Ach, was soll der Mensch verlangen?
Ist es besser ruhig bleiben?
Klammernd fest sich anzuhangen?
Ist es besser, sich zu treiben?

Soll er sich ein Häuschen bauen?
Soll er unter Zelten leben?

Soll er auf die Felsen trauen?
Selbst die festen Felsen beben.
Eines schickt sich nicht für alle!
Sehe jeder, wie er’s treibe,

Sehe jeder, wo er bleibe,

Und wer steht, dass er nicht falle!*

Inmitten des gleicherweise mit epigrammatischer Kürze geschriebenen Ge¬
dichts Sorge wurden ebenfalls Fragen der Unsicherheit gestellt. Die Frage nach
der Flucht erinnert den Leser erneut an den Anfang der dritten Strophe in
Rastlose Liebe, die daran anschließende Frage, ob man sich dagegen am neuen
Lebensglück eher doch festhalten solle, lässt die interrogative Disjunktion
genauso in der Schwebe, wie dies für die neue Lyrik der angehenden Wende
(Ende 1775 bzw. Anfang 1776) allgemein bezeichnend war:

Kehre nicht in diesem Kreise

Neu und immer neu zurück!

Laß, o laß mir meine Weise,

Gönn, o gönne mir mein Glück!

Soll ich fliehen? Soll ich’s fassen?
Nun, gezweifelt ist genug.

Willst du mich nicht glücklich lassen,

Sorge, nun so mach mich klug!”

26 Ebd., S. 46.
27 Ebd., S. 71. (Hervorhebung L. T.)