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Taube im Bild von dem Adler allegorisiert, der — vom Pfeile des Jägers getrof¬
fen — die Schwingkraft der Flügel für immer verloren hat und schmerzerfüllt
zum Himmel hinaufblickt: „und eine Träne füllt sein hohes Aug“. Das Bild
der zum diirftigen und unwiirdigen Leben verdammten Adlernatur — von
Goethe in Frankfurt persönlich zutiefst erlebt - wurde zu einem Symbol der
Geniekonzeption des Sturm und Drang verallgemeinert: Demnach sei das
Genie subjektiv-individuell zum höheren Leben veranlagt gewesen, objektiv
jedoch zu einem ihm unwürdigen Leben „verdammt“ , von der gemeinen Um¬
welt schließlich bloß durch die Sehnsucht nach dem Höheren und durch die
„Iräne in dem Aug“ getrennt.

Der Antagonismus zwischen Idee und Wirklichkeit innerhalb der Genie¬
konzeption war auf die Dauer schwer vertretbar. Damit ist auch ihr verhältnis¬
mäßig schneller Verfall zu erklären. Auch in Goethes Sturm-und-Drang-Lyrik
waren von frühester Zeit an Motive einer possiblen Aufhebung dieses Anta¬
gonismus enthalten. Am Anfang der Frankfurter Zeit stand neben Wandrers
Sturmlied, der Geniehymne par excellence, Der Wandrer, in dem Natur, Mensch
(Frau und Kind) und Uberreste der antiken Kultur in einer herrlichen, poetisch
zum ersten Male interpretierten Einheit von „edler Einfalt und stiller Größe“
harmonierten. Am Ende der Frankfurter Jahre waren wiederum neben der
Wonne der Wehmut (mit „Tränen der heiligen und ewigen Liebe“, ohne die die
Welt „öde“ ist) und Herbstgefühl (mit “Augen der ewig belebenden Liebe voll¬
schwellende Tränen“) sowie Sehnsucht (mit durch Nerven und Adern wühlen¬
dem Schmerz) auch solche Gedichte zu lesen wie Ich saug an meiner Nabel¬
schnur, in dessen zweiter Strophe der Dichter nicht nur der Fortsetzung des
Lili-Erlebnisses, sondern auch dem Tränenkult und sämtlichen Träumen der
Sturm-und-Drang-Jahre entsagen zu können glaubte. Zwischen 1772 und 1775
waren jedoch das Sturm- und das Adlerlied sowie Ganymed, Prometheus, An
Schwager Kronos, Wonne der Wehmut usw. typisch und nicht Der Wandrer
oder das später unter dem Titel Aufdem See überarbeitete Gedicht, wenn auch
solche wie diese die möglichen Ansätze zur Umwertung der Positionen der
Geniekonzeption bereits erkennen ließen.

In den ersten anderthalb Jahren in Weimar wurden die früheren lyrischen
Stoffe und Motive selbstverständlich noch immer nicht restlos aufgegeben. Rast¬
lose Liebe" war z. B. thematisch noch in jeder Hinsicht der Geniepoesie ver¬
pflichtet: Ihre ersten beiden Strophen komprimieren im Gehalt sowie mit der
neuen poetischen Formgebung?” des Gedichtes antithetisch die Attitüden des
Sturmliedes und des Werther-Motivs, wie diese für Goethes Dichtung in den

23 Ebd., S. 326.

24 Ebd., S. 58 f.

25 ,Rastlose Liebe“ vom 6. Mai 1776 ist ein Gedicht mit jeweils unterschiedlich gebundenen
Strophen wie „Ich saug an meiner Nabelschnur“ vom 15. Juni 1775 (umgearbeitet unter dem
Titel „Auf dem See“ für den 8. Band der ersten Werkausgabe des Dichters von 1789).

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