POLITISCHE JUSTIZ IN RUSSLAND: STRAFPROZESSE GEGEN UKRAINISCHE STAATSBÜRGER
charakterisiert. Manche Autoren argumentieren, die ukrainischen Bürger, gegen
die in Russland neue Schauprozesse geführt würden, hátten — anders als die Opfer
Stalins, deren Wille vom NKVD gebrochen worden sei — immerhin eine Chance,
ihren Widerstand aufrechtzuerhalten.! So konnte Oleg Sencov vor seiner Ver¬
urteilung zu 20 Jahren Haft ein Schlusswort sprechen, in dem er sich über die
Verlogenheit seines Verfahrens mokierte.”° Stanislav Klych und Mykola Karpjuk,
die ihre „Geständnisse“ widerriefen, gaben vor Gericht eine Erklärung ab und
zeigten öffentlich die Spuren ihrer Folterung.” Allerdings hatte es in den frühen
sowjetischen Schauprozessen wie dem Sachty-Prozess unbeugsame Reden und
widerrufene Geständnisse gegeben, „gerade diese Missgeschicke und Widerrufe
gaben den Verfahren den Anschein von real durchlebten und nicht nur gespielten
Ereignissen“.”
In jedem Fall setzen die neuen Merkmale dieser Prozesse die hergebrachten
Praktiken der sowjetischen politischen Justiz nicht außer Kraft. Zeugenberichte,
Medien und Menschenrechtsorganisationen beschreiben immer wieder dasselbe
Muster selektiver Justiz gegen ukrainische Bürger in Russland. Die betreffenden
Verfahren sind selbstredend keine einfache Neuauflage von Stalins Schauprozes¬
sen, mit den Verfahren der ,,Stagnationsperiode“ unter Leonid Breznev, in der
bereits „stärker auf rechtmafige Abläufe geachtet wurde, politische Repressionen
aber fortdauerten“, haben sie dagegen einiges gemeinsam.”?
Russland ist nicht der einzige postsowjetische Staat, der eine Renaissance poli¬
tischer Gerichtsprozesse erfährt. Wo Bagatelldelikte verhandelt werden, wird der
Buchstabe des Gesetzes zwar nicht selten befolgt, sobald jedoch die Macht der
herrschenden post- sowjetischen Eliten auf dem Spiel steht, halten die zuständigen
Instanzen es offenbar für zu riskant, „gewöhnlichen“ Gesetzen oder Verfassungen
eine echte Rolle in den Verfahren zuzugestehen. Politisch motivierte rechtliche
Verfolgung von Oppositionsführern wie Jurij Lucenko und Julija Tymosenko, die
beide erfolgreich Beschwerde beim EGMR eingelegt haben, war einer der Auslöser
der Euromajdan-Revolte in der Ukraine.”*In manchen postsowjetischen Staaten
Robert Coalson, Unlike Stalin’s Show-Trial Victims, Russia’s Political Defendants Don’t
Back Down, RadioFreeEurope/RadioLiberty (20.8.2015), https://www.rferl.org/a/russian¬
political-defendants-defiant-closing-speeches/27199801.html.
Sencovs Schlusswort ist nachzuhören unter, https://www.rferl.org/a/ukraine-russia¬
sentsov/27197750.html.
Ukrainians in Russian Court, Detention of Klykh and Karpiuk in sham „Chechen War“
trial extended, Ukraine Today (27.10.2015), www.youtube.com/watch?v=sRB6Y4Zwl0Y.
Elizabeth Wood, Performing justice: agitation trials in early soviet Russia, Ithaca, NY,
Cornell University Press, 2005.
3 Time Magazin, Soviet Justice: Still on Trial. When politics enters in, legality goes out the
window, Time Magazine (31.7.1978), 46.
24 Ähnlich gelagert waren die Fälle von Valerij Ivaséenko und Anatolij Makarenko, die