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WEGE

Zukuntt, wenigstens wie man ihn augenblicklich vorstellt, Vers für Vers noch
enger miteinander als davor, indem es heißt,

[3] Weit, hoch, herrlich der Blick
Rings ins Leben hinein;

Vom Gebirg zum Gebirg
Schwebet der ewige Geist

Ewigen Lebens ahndevoll.

Hierbei geht es allerdings ganz eindeutig — wie dies im Weiteren auch mit den
Textstellen des Abwärts- bzw. Heimfahrens untermauert wird — auch um die
Vergegenwärtigung der Empfindung, im Leben das Höchste bereits erreicht
zu haben. — Höher könne ja dieser Weg gar nicht mehr führen: Götz von Ber¬
lichingen ist dank der unzähligen Raubdrucke bereits so gut wie überall, wo
man deutsch lesen kann, bekannt. Werther ist gerade herausgekommen, der
Monolog des Prometheus und sein thematisches Gegenstück unter dem Titel
Ganymed, an denen sich alsbald der Spinozastreit entfachen wird, sind voll¬
endet. Der Verfasser wird bewundert, geachtet und geliebt. Freilich distanzie¬
ren sich auch einige von ihm und lehnen ihn und seine Werke naserümpfend
oder gar gehässig ab. Auch das gehört dazu, eine Zelebrität ersten Ranges zu
sein. Außerdem hat ihn ja Klopstock (eigentlich der einzige unter den Dichtern
der älteren Generation, der von den jungen Stürmern und Drängern bewundert
wurde) vor Kurzem in Frankfurt besucht, wohlgemerkt nicht Goethe ihn!
Goethe hat ihn lediglich nach dem Besuch höflich bis Darmstadt begleitet. Auf
diese Weise kam es eigentlich zum literarischen Postkutschenfahrterlebnis
auf dem Rückweg nach Hause.

Die produktiven literarischen Kontakte gehen bereits weit über die Grenzen
der „Brüder“, wie sie in Straßburg und Frankfurt genannt werden, hinaus:
Wege zu den ähnlich gesinnten jungen Göttingern sind bereits lebendig, er¬
schien ja kurz zuvor in ihrem Organ Der Wandrer (das Gegenstück zum
Sturmlied) sowie Adler und Taube, eines der Schlüsselgedichte zum Verständ¬
nis des Werther-Romans. Von noch größerer Bedeutung ist aber, dass sich
Goethe bereits auch dessen bewusst ist, dass man in Deutschland nach diesen
seinen Leistungen bis Ende 1774 nicht mehr so schreiben kann wie vor ihm,
wenigstens wenn man in den Bereichen der literarischen Kommunikation
etwas Bedeutendes, mit anderen Worten Werke von bleibendem Werte schaf¬
fen will.

Höher geht es wirklich nicht, — weder auf der holprigen Landstraße noch
auf dem Wege der geistigen Leistungen im eigenen Leben. Alles Weitere sei
nur noch Abwärtsrasen auf beiden Wegen. Ankunft, Ende, Vollendung seien
geschafft. Darüber hinaus haben weder Fahrt noch Leben irgendeinen Sinn.
Solange aber die Bilder beider Wege einander anfangs parallel bespiegelten (1.

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