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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE

wandten zu vereinigen, höchstens einen Staat zweiten Ranges bilden, dessen Un¬
abhängigkeit in ewiger Gefahr stünde und der notwendigerweise fremden Einflüs¬
sen unterworfen wäre. Wenn aber die Ungarn, Südslawen und Rumänen diesen
Plan aufnehmen, werden sie ein großer, machtvoller Staat mit 30 Millionen Ein¬
wohnern sein, der in der Wagschale [!] Europas großes Gewicht haben wird.

Einigkeit, Eintracht, Brüderlichkeit zwischen Ungarn, Slawen und Rumänen.
Das ist mein heißester Wunsch, mein aufrichtigster Rat. [...]?°

In dem „Beispiel der Schweizer“, dem latenten Hinweis auf deren Dreierbund
und ganz besonders im Ausklang des Textes sind Attitüden der Rütli-Szene!"°
und Worte des sterbenden Attinghausen an Stauffacher (aus Schwyz), Walter
Fürst (aus Uri) und Melchtal (aus Unterwalden)!" sowie ebenda die positive
Reflexion darauf von Ulrich von Rudenz (dem adligen Schweizer)!" gewiss
nicht zu verkennen. Nach Kossuths politisch aktuellem Konföderationskonzept
von 1862!% ging es dabei wörtlich eindeutig um die „Freiheit“ und die „Un¬
abhängigkeit“ „jeder Nation an der unteren Donau“ nicht anders, als um die
der Alpenländer im Schillerdrama, mit anderen Worten um einen „Bund“ der
Nationen und nicht um eine alle tradierten Eigenheiten einebnende „Vereini¬
gung“ der Staaten.’

Bereits zwei bis drei Jahrzehnte vor der Veröffentlichung des ersten Auro¬
ra-Bandes von 1822 war man im Königreich mit auffallend vielen ungarischen
Schiller-Nachdichtungen und -Adaptationen sowie deutschsprachigen und
ungarischen Nachahmungen sowohl den trivialempfindsamen wie auch den
klassizistischen Interessen der Leser nachgekommen. Kazinczy selbst nannte
den in Jena studierten Freund Jänos Kis „den ungarischen Schiller“ und in den
Anmerkungen der kritischen Ausgabe der Lyrik von Däniel Berzsenyi!® stößt
man ebenfalls nicht ohne Grund immer wieder auf Schillers Namen. Aber
auch in den romantischen Jahrzehnten war er der weitaus meist übersetzte
deutsche Dichter, obwohl es damals noch kaum einen lesekundigen Ungarn

99 Ebd., S. 10 f. (Hervorhebungen L. T.) Lajos Kossuth unterschrieb diese Worte während seines
Turiner Exils am 1. Mai 1862.

100 Wilhelm Tell, 2. Aufzug, 2. Szene

101 Siehe seine Rede mit dem Ausklang „Drum haltet fest zusammen - fest und ewig — / Kein
Ort der Freiheit sei dem andern fremd - / [...] der Bund zum Bunde rasch versammle - / Seid
einig — einig — einig“, Wilhelm Tell, 4. Aufzug, 2. Szene.

12 Vgl. dazu ebd. u. a. folgende Worte von Rudenz: „Ihr /Sollt meine Brust, ich will die eure

schützen / So sind wir einer durch den andern stark“ mit dem von Gragger deutsch veröffent¬

lichten Kossuth-Text „alle für einen und einer für alle.“

13 Genauso wie auch in Graggers aktuellem deutschsprachigem Angebot desselben von 1919.

102 Sjehe darüber ausführlicher S. 194.

10

a

Berzsenyi, Dániel: Költői művei [Poetische Werke]. Hg. v. Merényi, Oszkar. Budapest: Aka¬
démiai Kiadó, 1979, 923 S.

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