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BEGEGNUNGEN MIT DER DEUTSCHEN LITERATUR

nahmen in Ungarn erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Anfang. Nach
den bewegten Jahren des Vormárz, des Freiheitskrieges der Ungarn von
1848/1849 und der katastrophalen Niederlage folgte, wie sich dazu der unga¬
rische Germanist Jözsef Turöczi-Trostler äußerte,

[...] schließlich als Atempause eine Situation der relativen Ruhe, des Rückblicks
und Sich-Sammelns, wie für eine Rezeption des reifen Goethe nicht hätte günsti¬
ger gedacht werden können. [...] Man legt [...] gerade in dieser Zeit den Grund zu
einem Goethekult, der an Solidität und Folgerichtigkeit alles bisherige in den
Schatten stellt [...] Seit der Jahrhundertmitte [...] mündet das elementarste wie
zufälligste Goetheerlebnis in den lebendigen Strom lückenloser Kontinuität. [...]
Da ist vor allem die neue Mittelschule deutsch-österreichischen Ursprungs [...],
die einer bildungsfrohen bürgerlichen Mittelschicht deutsche Klassik jetzt zum
ersten Male als lebendiges Element ins Geäder strömen lässt. Ungarische Germa¬
nisten — M. Riedl,°® G. Heinrich” in Budapest, H. Meltzl” in Klausenburg - bauen
diese Ansätze wissenschaftlich aus und prägen Generationen von Lehrern die

Andacht zu Weimar ein.°!

4.

Friedrich Schiller wurde dagegen von den mittachtziger Jahren des 18. Jahr¬
hunderts bis 1848 kontinuierlicher Mitgestalter aller Entwicklungstendenzen
der ungarischen Literaturgeschichte.

Es gibt auch keinen anderen deutschen Schriftsteller im 18. Jahrhundert,
dessen Werke unter den Lesern und Theaterbesuchern des ungarischen König¬
reichs in einer so kurzen Zeit nach deren Entstehung bekannt, verbreitet und
gleichzeitig in einem so hohen Maße anerkannt worden wären, als die von
Friedrich Schiller. Die kulturhistorische Bedeutung dieser überraschend
schnellen „Ankunft“ Schillers in Ungarn kann man mit jedem Recht für eine
rezeptionshistorische Ausnahme halten, wenn man bedenkt, dass die Zeit der
Landesgrenzen überschreitenden interkulturellen Rezeptionsvorgänge in Zent¬
raleuropa im Laufe des 18. Jahrhunderts im Durchschnitt von vorerst rund 50
Jahren um 1800 lediglich auf 20-30 Jahre zurückging.

88 Riedl, Szende (1831-1873), ungarischer Germanist, von 1864 bis 1873 Leiter des Lehrstuhls
für deutsche Sprache und Literatur an der Pester Universität. (Das M. vor seinem Familien¬
namen im Text bezieht sich auf den Taufnamen „Mansvetus“, dem Ursprung nach „mansue¬
tus“, das heißt u. a. „mild“. Der ung. Personenname „Szende“ wurde vermutlich der Wortbe¬
deutung entsprechend gebildet.)

Heinrich, Gusztäv (1845-1922), laut R. Gragger „der Vater der ungarischen Germanistik“ (siehe
in diesem Band S. 173-207), von 1875 bis 1911 als Nachfolger v. Sz. Riedl Leiter des Lehrstuhls
für deutsche Sprache und Literatur an der (seit 1873 bereits) Budapester Universität.

Meltzl, Hugo (1848-1908), ab 1872 Leiter des Lehrstuhls für Germanistik an der Universität
in Kolozsvär (dt. Klausenburg, heute: Cluj-Napoca)

Turöczi-Trostler, Jözsef: Goethe und die neuere ungarische Literatur. Budapest: [s.n.], 1932,
20 S. Zitate hier, S. 7-9.

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