der er bereits 1919 die Bedeutung des gerade erst verstorbenen Endre Ady zu
wirdigen verstand. Wir bewundern dabei die klare Sicht, mit der er z. B. Endre
Adys Patriotismus interpretierte, Gehaltsstrukturen der modernen Dichtung
von Ady und seinen Zeitgenossen aus den sozialhistorischen Illusionsverlusten
abzuleiten verstand und welch eingehende Kenntnis der damaligen modernen
ungarischen Dichtung er bewies, indem er z. B. - wenn auch nur mit wenigen
Worten — den Expressionismus und die Moderne in der neuen ungarischen
Lyrik deutlich unterschied.’”’ Anregend sind heute noch seine Gedanken über
die Probleme der Nachdichtung der ungarischen Belletristik.”®
Er hatte mit seinen öffentlichen Vorträgen Erfolg, nach einem zeitgenössi¬
schen Bericht zollte man dem anderthalb Stunden langen Vortrag über die
Kulturwerte Ungarns „stürmischen Beifall“.
Anhand der Manuskripte lässt es sich recht genau nachvollziehen, wie
wichtig für Gragger war, dass seine Vorträge beim Publikum, mochte es sie in
Dresden oder in Berlin gehört haben, eine nachhaltige Wirkung erzielten. Ich
denke dabei nicht nur an seine bewusst angewandten individuellen rhetorischen
Stilmittel, sondern auch an die ständige Arbeit am Manuskript. Die Einschü¬
be, Streichungen und Korrekturen in seinen Handschriften mit verschiedenen
Stiften und Federn oder die Zurücknahme eines gestrichenen Absatzes mit
den Worten „Ez kell“ (deutsch etwa: „das brauche ich“) vergegenwärtigen bis
heute sein kontinuierliches Feilen am Text bzw. sein ununterbrochenes Kräf¬
tesammeln bis zum letzten so sehr entscheidenden Moment des Vortrags. Er
durfte dabei genau bedacht haben, welche großen Chancen ihm bei der Pro¬
pagierung der ungarischen „Kulturwerte“ zukamen, d.h. mitanderen Worten,
welche große Verantwortung er für den Erfolg (nicht schlechthin für seinen
Erfolg, sondern für den der ungarischen Kultur) trug. Deshalb verließ er sich
nicht bloß auf die aus der Gragger-Literatur allgemein bekannte fesselnde
Ausstrahlung seiner Persönlichkeit, auf sein intuitives rhetorisches Talent,
sondern er durchdachte zusätzlich bereits vor den Vorträgen eine Art geplan¬
te Inszenierungsstrategie, indem er hervorzuhebende Silben oder Worte zu¬
sätzlich unterstrich oder an das Ende mancher inhaltlich äußerst wichtigen
Stellen die ungarischen Worte „nagy szünet“ (deutsch: „große Pause“) eintrug
oder aber vor wichtigen Randbemerkungen das Wort „halkan“ (d. h. „leise“)
schrieb.
7” Die jüngste ungarische Dichtung. Vortrag, gehalten in der Gesellschaft der Freunde des Unga¬
rischen Instituts am 15. Dezember 1919, 41 S. = Maschinenschrift (Gragger Archiv). Erschie¬
nen in BBH, Bd. 3 (Konferenzband), S. 221-244.
78 Vgl. dazu seine kritischen Worte über die Petöfi-Übersetzungen in Gragger, Kulturwerte
Deutschlands für Ungarn, S. 237 f.
” In: Pester Lloyd, den 27. 3. 1917.