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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE Gragger argumentierte mit Kossuth, dass die Trennung der Bundesstaaten des konföderierten Karpatenbeckens mit größter Umsicht vorzunehmen sei, um die unter Umständen unumgängliche Verletzung der ethnischen, sprachlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und historisch traditionellen Zusammengehörigkeit so weit wie nur möglich zu minimieren. Man wusste jagenau, dass sich die ethnischen und sprachlichen Grenzen in dem Karpatenraum, dank gerade der früheren, von dem Mittelalter bis um das angehende 19. Jahrhundert friedlichen Koexistenz und Schicksalsgemeinschaft der verschiedenen Völker der ungarischen Krone, manchenorts in einem höchst diffusen Miteinander verzahnt ausbreiteten. So konnte früher womöglich traditionellen ökonomischen und kulturellen Aspekten von den Betroffenen selbst eine größere Bedeutung beigemessen werden als den sprachlichen. Infolge der inneren sozialhistorischen (soziologischen und kulturellen) Entwicklungstendenzen in jenen Regionen - und noch mehr der zunehmenden ideologischen und politischen wirkungsstrategischen Aktivitäten von außen — machten sich freilich bereits im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts und vor allem danach Akzentverschiebungen und Positionsveränderungen innerhalb der Identitätsdeterminanten der Bevölkerung bemerkbar, wobei neben der religiösen Zugehörigkeit, der sozialen Stellung in der Gesellschaft, der Bildung, dem Wohnort etc. die Muttersprache und im engen Zusammenhang damit die Nationalität immer deutlicher in den Vordergrund rückten. Schließlich erwies sich bereits um 1900 die Sprache als ein erstrangiges Distinktionsmerkmal innerhalb der Gliederung der Bewohner des Karpatenbeckens. Das änderte natürlich nichts daran, dass die plötzlich wichtig gewordenen Sprachund Nationalitätengrenzen geographisch bereits äußerst schwer auszumachen waren. Aber gerade darum hätte nach Gragger die demokratische Forderung Kossuths 1919 beachtet werden sollen, wie er sie in der Präambel seines Entwurfes für den ganzen Prozess der Realisierung des Konföderationsplanes mit den folgenden Worten deutlich machte: „Die Grundlage der neuen staatsrechtlichen Ordnung in den Donauländern wäre die freie Einwilligung der einzelnen Völker, sei es in Form einer gesetzgebenden Versammlung, sei es durch allgemeine Abstimmung.“ In diesem Sinne kritisierte Robert Gragger 1919 mit scharfen Worten das Vorhaben der Vertreter der Siegermächte und der an der Anwendung dieser höchst demokratischen Kossuth-Ihese nicht interessierten ostmitteleuropäischen „siegreichen Nationen“, von denen die Grenzen am grünen Tisch von Versailles in die Landkarte Europas eingezeichnet wurden, ohne auf ethnographische, wirtschaftliche oder geschichtliche Rücksichten einzugehen und ohne die Völker selbst zu befragen. Waren die Föderativpläne @ Gragger, Die Donau-Konféderation, S. 8. (Hervorhebungen, T. L.) + 198 +