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SCHILLERS LETZTE GEDICHTE IM KONTEXT ZEITGENÖSSISCHER DEUTSCHER LYRIK

Aber uns leuchtet
Freundliche Treue;
Sehet, das Neue

Findet uns neu.

Trotz solcherart prinzipieller Differenzen zur Dichtung der jüngeren Modernen
entstand freilich auch Goethes Lyrik in einem Milieu wie die der anderen. In
Goethes Bergschloss sind z. B. die thematischen Beziehungen zur Mittelalter¬
poesie der Zeitgenossen unverkennbar. Aber wie anders Goethes Verhältnis
zur Vergangenheit und Gegenwart war, wird schon daran deutlich, dass er —
nicht ohne Humor, an manchen Stellen mit kleinlicher Ausführlichkeit — zu¬
nächst erzählt, was nicht mehr in den Ruinen geschieht, ehe er nach einem
plötzlichen Wechsel in einer Reihe antithetischer Strophen wieder alles, was
einst von der Zeit zerstört wurde, ganz und lebendig macht.®® Auch vom sei¬
nerzeit modernen Pessimismus kann bei Goethe nicht die Rede sein angesichts
der Totalitätsnormen, denen er jeden Augenblick unterwarf, wie er dies exem¬
plarisch in seinem philosophischen Lied Dauer im Wechsel” vorgeführt hat.
Dauer im Wechsel strahlt geradezu auch Goethes wunderbare Hohelied auf
das sich in Zeit und Raum, Generationen hindurch erweiternde Familien- und
Liebesglück unter dem Titel Die glücklichen Gatten (1802) aus. Die ehemals
großen Fragen der Aufklärung nach dem Fortschritt der Welt und der huma¬
nen Verhältnisse des Lebens wurden dabei nicht an zeithistorischen Ereig¬
nissen gemessen, sondern an den großen und allgemeinen Zusammenhängen
der Natur als Einheit, beispielhaft etwa in dem naturwissenschaftlich-natur¬
philosophischen Gedicht Weltseele (1802). Die während einer jahrzehnte¬
langen Entwicklung ausgearbeiteten Haltungsnormen, wie Goethe sie etwa am
Gedichtende von Natur und Kunst 1800 summierte, schufen der Bereitschaft
für das konstruktive und produktive Verhältnis zu jeder Gegenwart die Basis:

Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.

Wer Großes will, muss sich zusammenraffen;
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,

Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.”

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Goethe: Bergschloss (entstanden 1802?, erschienen 1804), ebd., S. 65 f.

Goethe: Dauer im Wechsel (entstanden 1799-1802, erschienen 1804), ebd., S. 83 f.

Goethe: Die gliicklichen Gatten (entstanden 1802, erschienen 1804), ebd., S. 79 f. Unter dem
Titel Fürs Leben (von 1820) ist es als abschließender Teil eines Zyklus (nach Goethe eines
„kleinen bürgerlichen Romans“) von 6 Gedichten (unter dem Titel März, April, Mai, Juni,
Frühling übers Jahr, Fürs Leben) lyrisch besonders wirksam. Ebd. S. 505-513.

Goethe: Weltseele (entstanden 1803, erschienen 1804), ebd., S. 89 £.

Goethe: Natur und Kunst (entstanden 1800, erschienen 1802), Berliner Ausgabe, Bd. 2, S. 121.
(Hervorhebung L. T.).

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