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SCHILLERS LETZTE GEDICHTE IM KONTEXT ZEITGENÖSSISCHER DEUTSCHER LYRIK

VERANDERUNGEN IN DER ANTIKE-REZEPTION UND DIE MODERNE
VERGANGENHEITSORIENTIERUNG

Die Antike-Rezeption, wie sie bei Schiller, Hölderlin, A. W. Schlegel und Tieck
nachweisbar ist, hatte um 1800 nichts mehr mit den klassizistischen Ideen der
vorrevolutionären Aufklärung gemeinsam. „Hölderlin hat mit Bewusstsein
die Antike der neuen Vorstellungsart untergeordnet gefunden“ - schrieb Ga¬
damer,? und auch A. W. Schlegel vertrat seinerzeit die Ansicht: „Im Laufe der
Zeiten verändert sich immerfort alles. Das Alte kann also nicht ohne weiteres
hergestellt werden [...]“*!

Ganz und gar der neuen Weltsicht entsprechend führte bereits die Flucht
aus der Gegenwart und nicht mehr der Wille ihrer Erneuerung auch Ludwig
Tieck in die Welt der antiken Götter, wenn er kurz vor der Jahrhundertwende
folgende Verse verfasste:

Rückwärts flieht das zage Bangen,
Und die Muse reicht die Hand,
Führet sicher das Verlangen

In der Götter Himmelsland.®

Wenn man Schillers letzte Gedichte mit denen der Romantiker und unter dem
Aspekt seines veränderten Verhältnisses zur Antike liest,” so dürften u. a.
folgende (sich allgemein durchsetzende neue typologische) Eigenheiten auf¬
fallen: Einerseits brachten die stoffliche Auswahl (z. B. Hero und Leander) und
die Bearbeitung (z. B. Das Siegesfest) schon an sich die neu entstandenen
Brüche in der Weltanschauung sowie die gestörten Beziehungen zur Wirk¬
lichkeit zum Ausdruck. Andererseits enthielt die klassische Themenwahl jeweils
auch Motive einer Flucht aus der unbequem und unüberschaubar gewordenen
Gegenwart. Ebendies sagte Schiller in Bezug auf das Siegesfest eindeutig aus:

Die Lieder der Deutschen, welche man in fröhlichen Zirkeln singen hört, schlagen
fast alle in den platten, prosaischen Ton der Freimaurerlieder ein, weil das Leben
keinen Stoff zur Poesie gibt; deswegen habe ich mir den poetischen Boden der ho¬
merischen Zeit gewählt und die alten Heldengestalten der Ilias darin auftreten
lassen. So kommt man doch aus der Prosa des Lebens heraus und wandelt in bes¬
serer Gesellschaft."

30 Gadamer, Hans-Georg: Hölderlin und die Antike. In: Hölderlin. Gedenkschrift zu seinem 100.
Todestag. 7. Juni 1943. Hg. v. Paul Kluckhohn. Tübingen: Verlag v. J. C. B. Mohr, 1943, S. 68.

Schlegel, August Wilhelm: Kritische Schriften und Briefe. 6 Bde. Hg. v. Edgar Lohner. Stutt¬
gart: W. Kohlhammer Verlag, 1962-1967, Bd. 3, S. 81.

2 Tieck, Ludwig: Schriften. 28 Bde. Berlin: Georg Reimer, 1828-1854, Bd. 16, S. 80.

3 Siehe den Abschnitt mit dem Titel „Antike-Ihematik in Schillers letzten Gedichten“.

* Friedrich Schiller an Wilhelm von Humboldt, Weimar, den 18. August 1803. In: Schillers
Briefe in zwei Bänden. Berlin / Weimar: Aufbau-Verlag, 1968, Bd. 2, S. 335 f. (= Bibliothek der
deutschen Klassiker, BdK)

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