SCHILLERS LETZTE GEDICHTE IM KONTEXT ZEITGENÖSSISCHER DEUTSCHER LYRIK
Brechet mutig alle Brücken ab.
Zittert nicht, die Heimat zu verlieren,
Alle Pfade, die zum Leben führen,
Alle führen zum gewissen Grab.
Opfert freudig auf, was ihr besessen,
Was ihr einst gewesen, was ihr seid,
Und in einem seligen Vergessen
Schwinde die Vergangenheit.
[...] flüchtet aus der Sinne Schranken
In die Freiheit der Gedanken.
Und wenn unter den Gedichten Schillers während der schöpferischen Zu¬
sammenarbeit mit Goethe um 1797, inmitten der gemeinsamen Arbeit an den
Xenien und den klassischen Balladen, auch hellere Töne zu registrieren sind
(z. B. Licht und Wärme, Breite und Tiefe, Hoffnung, Die Worte des Glaubens),
so wirkten vom Ausgang des Jahrhunderts der poetische Ausdruck vom Auf¬
geben der früheren Illusionen und der stärker als je zuvor artikulierte Rückzug
in das Reich der schönen Träume, der Poesie, umso entschiedener.
Der Glaube an die aufgeklärten Ideen von der besten aller möglichen Wel¬
ten, d. h. an die sinnvollste und glücklichste Einrichtung des Lebens der Ge¬
sellschaft und des Individuums, wie man dies im 18. Jahrhundert bei allen
Differenzen schon immer interpretierte,° wurde in den anderthalb Jahrzehn¬
ten zwischen der Französischen Revolution und der Kaiserkrönung von Na¬
poleon in der geistigen Elite Deutschlands immer deutlicher erschüttert; ihre
vorerst für möglich gehaltene tatsächliche Realisierung verschob sich bei einer
noch der Aufklärung verpflichteten Argumentation allmählich in die fernere
Zukunft, bis sie schließlich die Grenze zwischen der endlichen und der un¬
endlichen Zeit, zwischen Rationalem und Irrationalem und damit möglicher¬
weise auch zwischen Aufklärung und Romantik überschritt.
Die Realisierung des Ideals schien 1785 auch für Schiller noch die unmittel¬
barste Aufgabe gewesen zu sein: In den pathetischen Aufforderungs- und
Aussagesätzen der Freudenode’ flossen Gegenwart und Nahzukunft optimis¬
Schiller, Friedrich: Das Reich der Schatten. Ebd., S. 232-237.
Trotz aller individueller Unterschiede war diese aufgeklärte Zukunftsorientierung in hohem
Maße konvergent mit Vorstellungen von einer Gesellschaft des „ewigen Friedens“ (Kant, Gör¬
res), des Vernunftstaates (Condorcet), der „volonte generale“ (Rousseau), der „allgemeinen
Humanität“ (Herder), wo der Mensch „das Gute thun wird, weil es das Gute ist“ (Lessing), wo
der schöne Ausgleich die Spaltung zwischen Sinnlichem und Vernünftigem beseitigt (Schiller)
etc.
Schiller, Friedrich: An die Freude, Berliner Ausgabe, Bd. 1, S. 168-171.