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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE Qualitat leidet vor allem darunter, dass die Dichter wegen fehlender Uberzeugungskraft in der lyrischen Attitiide die thematische Belastung des Anachronismus bei den literarhistorisch notwendigerweise erfolgten gehaltlichen Normveränderungen künstlerisch kaum noch meistern konnten. Nicht nur die Liederdichtung, auch die vielen philosophierenden und gesellschaftskritischen Jahrhundertwendegedichte in den Jahren 1800 und 1801 enthalten kaum mehr als recht fragwürdige, vielfach unbegründete bzw. widerspruchsvolle Stellungnahmen sowie einen seinerzeit vollkommen überholten spätaufklärerischen Optimismus mit dem Glauben an „Menschenwohl“, „Weisheit“, „Zufriedenheit“, „Unschuld“, „Sittsamkeit der Schönen“ und an „Freude“ und „Geselligkeit“?° oder mit heiterem „Blick in die Ferne voll Muth und Ahnung“, resignierende Tränen über den vergangenen „heitern Morgenschein“ des Jahrhunderts der Aufklärung,” die Verfluchung der Fremdherrschaft”? und schließlich den Wunsch nach dem einzigen „Sieg“, dem „über uns und unsre Leidenschaften“? (Gleim). Eine Art Resignation soll dabei mit der aufgeklärten Hoffnung auf die glorreiche Durchsetzung der „Wahrheit“ und der „Tugend“ im neuen Jahrhundert saniert werden. Aus der Unmenge von Gedichten dieser typologischen Gruppe seien hier sechs Verse aus dem 1802 veröffentlichten Gedicht Das Scheidende an das neue Jahrhundert vom Modedichter Karl Müchler zitiert: Erricht’ auf’s neu der Wahrheit einen Thron, Ihr Tempel war entheiligt und zertrümmert, der Tugend gieb den langentbehrten Lohn, entreiß’ dem Laster, das in Hoheit schimmert, die Larve, daß es züchtige der Hohn, bis es zerknirscht um mild’re Strafe wimmert [...]?? Nur das Jahrhundert wird neu, nicht aber die deutsche Poesie, wenn sie sich ohne jede Erwägung von zeitbezogenen Innovationen im Jahre 1801 noch immer gänzlich der bereits nahezu hundertjährigen Denkweise verpflichtet und sich einer Metaphorik bedient, die von den Neujahrsoden von Barthold Heinrich Brockes in den Jahren 1718 und 1719 bis zur Jahrhundertwende ununterbrochen für „modisch“ gegolten hat. In diesem Sinne hätte Karl Ludwig von Knebel folgendes Jahrhundertwendegedicht mit der damals bereits recht verschlissenen Vernunftmetaphorik nicht nur in den Kleinen Schriften [der] 2 NTM, Februar 1801, S. 81-86. 2 NTM, Januar 1802, S. 3-5. 22 NTM, Februar 1801, S. 86-92. 23 Ebd., S. 17-21. 24 NTM, Marz 1801, S. 163 f. > In: Karl Müchlers Gedichte. Zweyter Band. Berlin: 1802, S. 142-147.