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GOETHES AN SCHWAGER KRONOS IN EINER ADAPTATION VON 1800

nenten eines jeden Sprachkunstwerkes also, sind aber, wie oben nachgewiesen
wurde, in den beiden Gedichten grundverschieden. Auf dieser sprachlich héchst
divergierenden Basis konstituieren sich die noch mehr auseinanderstrebenden
Unterschiede der jeweils vollendeten kiinstlerischen Ausdrucksweise, der ei¬
gentlichen poetischen Form der beiden Gedichte: Vor allem sind in der Raschen
Lebensfahrt sämtliche Bilder (von der Fahrt in der Kutsche bis zu dem abschlie¬
ßenden „Gruselszenario“) nur Mittel zum jeweiligen Zweck; sie dienen aus¬
schließlich dazu, den zu vermittelnden poetischen Inhalt, die Gedanken und die
Aussage des Dichters zum Thema „Lebensfahrt“ zu veranschaulichen. So sind
sie auch keine eigentlichen Metaphern, sondern lediglich das allegorisch wirken¬
de Instrumentarium einer dichterischen Attitüde. Dagegen ist die poetische
Bildersprache Goethes (nicht nur in diesem Gedicht und auch nicht ausschlie߬
lich in der Gedankenlyrik der Sturm-und-Drang-Jahre) eine typische „doppel¬
bödige“ Metaphorik, in der Vergleichendes und Verglichenes nebeneinander
und miteinander verflochten, als komplementäre Bilder einander bespiegelnd
jeweils auch unabhängig voneinander ihren eigenständigen Erlebnishintergrund
haben und diesen auch nachempfinden lassen. Besonders auffallend ist dies in
beiden Fassungen des An Schwager Kronos.°*

Nichts erinnert in Einsiedels Gedicht außerdem an die ungebundene, der
Genie-Haltung adäquate lyrische Ausdrucksweise Goethes: Außer den oben
aufgelisteten Differenzen in der eigenartigen Wahl und Bildung der Wörter
bei Goethe sei hier auf seine in der Genie-Zeit so typischen freien Rhythmen
hingewiesen, an deren Stelle in der Raschen Lebensfahrt trochäische Vierheber
in gleichmäßigen Strophen - zusätzlich jeweils mit Waisen und umschlagen¬
den Reimen gebunden - pulsieren.

Das Einsiedel-Gedicht kann daher mit seiner eigenständigen sprachlichen,
stilistischen und poetischen Beschaffenheit, d. h. mit der von Goethes Gedicht
gänzlich unabhängigen Form auf keine Weise als eine Goethe-Parodie gelesen
werden: Es enthält ja nichts von der charakteristischen Formensprache weder
dieses Goethe-Gedichtes noch der Goethe’schen Lyrik um 1774 oder gar dar¬
über hinaus. Somit fehlen sämtliche Voraussetzungen für parodistische Wir¬
kungen.

54 „An Schwager Kronos“ wurde ja ursprünglich nach Goethes eigenem Zusatz am 10. Oktober
1774 in der Postchaise |!) geschrieben, als er sich, nachdem er den ihn in Frankfurt besuchen¬
den Klopstock nach dessen Abschied bis Darmstadt begleitet hatte, auf dem Rückweg nach
Frankfurt befand. Das Erlebnis dieser wirklich erlebten Fahrt verband sich dabei auf das
engste mit dem Sturm-und-Drang-Gefühl des im Leben auf dem Höhepunkt angelangten,
bereits weit und breit (selbst vom „hervorragenden Klopstock“) bewunderten Genies. Vgl.
auch die Anmerkungen in: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 1, S. 440.