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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE

buchautoren (mit welcher Begründung auch immer) zu den Adjektiven gezáhlt
wurde. So ist man faktisch genauer, wenn man diesbezüglich den tatsáchlich
gravierenden stilistischen Unterschied darin erkennt, dass es im Goethe-Text
ungewöhnlich viele für die Sturm-und-Drang-Poesie besonders typische und
im poetischen Text stilistisch meistens auf sonderbare Weise verwendete
Partizip-Präsens-Formen gibt („rasselnd“, „eratmend‘“, „hoffend“, „strebend“,
„verheißend“, „schäumend“, „schlotternd“, „schallend“ und substantivisch
verwendet „mich Taumelnden“), wohingegen Einsiedel das Partizip Präsens
in diesem Gedicht wie ebenda auch in seinen anderen beiden Texten der Klei¬
nen Schriften kein einziges Mal [!] verwendet, als ob er diese Art der Wort¬
bildung nicht gekannt habe.

TEXTVERGLEICH 3: DIE STILISTISCH-POETISCHE FORMENSPRACHE

Schon die lexikalen Unterschiede mögen erhebliche poetisch-stilistische Di¬
vergenzen in der Formensprache klarstellen. Noch wichtiger ist aber, dass im
Kontext des Goethe-Gedichtes selbst häufigere Wörter in die Sphäre des poe¬
tisch höchst Individuellen gehoben werden. Das Wort „Leben“ der Häufig¬
keitsklasse 6 mit dem niedrigen Potenzwert 64 mag schon in den Sätzen „Rasch
ins Leben hinein!“ bzw. „Rings ins Leben hinein!“ persönlicher wirken als in
Einsiedels adäquatem „Rasch will ich durchs Leben wallen“,” es erhält aber
gewiss einen wesentlich höheren Seltenheitsgrad im Kontext „ewigen Lebens
ahndevoll“, ähnlich wie „Schritt“ (Klasse 8, Potenzwert 256) in „den eratmen¬
den Schritt“ oder „reißen“ (Klasse 12, Potenzwert 4.096) in „Reiß mich ein
Feuermeer“. Unverwechselbar einzigartig ist auch das Goethe-Wort „Kiefer“
(nach dem Leipziger Lexikon eigentlich ebenfalls der Durchschnittsklasse 12
zugeordnet) im Vers „entzahnte Kiefer schnattern“ und besonders im breiteren
Kontext von dem Vers 26 bis 31, nach denen die synchron ineinanderfließen¬
den Bilder der Natur und des Kräfteverfalls im Alter auch das Nachempfinden
von gleichzeitig zwei Bedeutungen dieses Wortes nicht ausschließen.’

Es gibt natürlich keinen Grund zu bezweifeln, dass Einsiedel von Goethes
Gedicht in hohem Maße inspiriert wurde. An die eigentliche Quelle erinnern ja
mehrere unverwechselbare Momente, die sich allerdings alle unter poetischen
Aspekten als reine Äußerlichkeiten darstellen. Das Wort, die Lexik, die Art ihrer
elementaren syntaktischen Bindungen, die prinzipiellen technischen Kompo¬

” Letzteres vergleichbar mit zeitgenössischen Kirchenlied-Texten und mit um (und besonders
unmittelbar nach) 1800 modisch gewordenen Pilger-Gedichten sowie Wanderliedern.

® [Die] „Kiefer“: 1. Teile des Schädels (Plural); 2. Nadelbaum (Singular). Zwar steht danach das
Verb („schnattern“) in der Mehrzahl, was die zweideutige Lesart aufheben dürfte, doch folgt
diesem ein zweites (mögliches) Subjekt („Gebein“), wodurch die synchrone Perzeption der
beiden Vorstellungen erneut offen bleiben könnte.

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