OCR Output

GOETHES AN SCHWAGER KRONOS IN EINER ADAPTATION VON 1800

dichtung,”’ und man veröffentlichte auch mehrere um die Jahrhundertwende
wieder höchst modern wirkende Genres, so u. a. Sonette und verschiedene
Erzähltexte.

Dabei erinnert eine Verserzählung mit dem aufgeklärten Ausklang vom
Sieg der Tugend über das Laster an die deutsche Belletristik um die Mitte des
18. Jahrhunderts.” Umso moderner wirkt ein Gedicht?” in der Art der Schil¬
ler’schen ,, Troubadouren-Lieder“ aus den ausgehenden neunziger Jahren,’ und
ein spielmännisch anmutender Prosatext von Hugdietrich und Hildburg?'nimmt
sogar charakteristische Merkmale der hochromantischen Mittelalter-Rezep¬
tion vorweg, vor allem weil in der beigefügten Studie?” bereits patriotisch-na¬
tionale Aspekte der romantischen Hinwendung zur Mittelalter-Ihematik
deutlich werden.

Das Experimentieren mit verschiedenen poetischen Gattungen und Stil¬
richtungen durfte hierbei für die meisten Autoren besonders wichtig gewesen
sein. An dieser Stelle sei nur auf Herder hingewiesen, der sich in seinen in den
Kleinen Schriften veröffentlichten zehn Gedichten der unterschiedlichsten
Register der zeitgenössischen deutschen Dichtung bediente. Die edlere Rache,
Das neue Lied und Der eigene Schatten sind z. B. aufgeklärte Lehrgedichte,
letzteres mit zeitkritischer Aussage. Der Wald und der Wanderer erinnert
heute an die etwa anderthalb Jahrzehnte später entstandene reife romantische
Lyrik von Eichendorff, dagegen machte Herder mit dem Gedicht Meine Blume
wie recht viele seiner Zeitgenossen dem um 1800 „modisch“ gewordenen Sen¬
timentalismus Zugestandnisse.**

Selbstverständlich repräsentierte sich die Vielfalt nicht nur im jeweiligen
Inhalt und in der poetischen Formensprache der Beiträge, sondern auch in
ihrem künstlerischen Niveau, wobei keineswegs das „Alter“ bzw. die „Moder¬
nität“ des Genres, der Tendenz bzw. der Inhalte, denen sich der Autor ver¬
pflichtete, entscheidend war.

Bei dieser breiten Palette der poetischen Stilrichtungen, in der ungewöhn¬
lich tendenztoleranten Atmosphäre der beiden Bände der Kleinen Schriften
fiel vermutlich kaum auf, dass ein Dichter wie Einsiedel sich in einem seiner
drei nebeneinander veröffentlichten Gedichte mehr oder weniger von einem
um die Jahrhundertwende bereits allenthalben für anachronistisch empfun¬
denen Genie-Gedicht Goethes hatte beeindrucken lassen.

” Brun, Friederike geb. Münter: Das Gewitter. Ebd., Bd. 1, S. 20-24.

?8® Sonnenfels: Der neue Protagoras. Eine Erzählung. Ebd., Bd. 2, S. 89-93.

Seckendorf, Siegmund, von: Nachtmusik. An Olimpia. Ebd., S. 165-167.

Vgl. dazu Kap. „Romantisches und Sentimentales im Kontext eines merkwürdigen Schiller¬
Liedes aus den hochklassischen Jahren“ in diesem Band.

Majer, Friedrich: Hugdietrich und Hildburg. Nach dem Heldenbuch. In: Kleine Schriften, Bd.
1, S. 26-101.

Ebd., S. 101-110.

Die zehn Gedichte von Herder erschienen unter dem Titel „Blumen“. Ebd., Bd. 2, S. 1-26.

®

2

©

3

Ss

3

3

Ss

3

0

+ 117 +