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GOETHES AN SCHWAGER KRONOS IN EINER ADAPTATION VON 1800

Das merkwiirdige Gedicht lasst eine ganze Reihe von Fragen aufkommen:
Könnte es Goethe als dritte Variante des ursprünglich im Oktober 1774 ent¬
standenen Sturm-und-Drang-Gedichtes verfasst haben? Und wenn dies von
vornherein mit größter Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann, so
fragt man sich, wie irgendein anderer, laut Titel vermutlich sogar ein Weima¬
rer Dichter, in Weimar in einem Band, der von Goethe eingeleitet wurde, un¬
missverständlicher Weise dessen ehemaliges Gedicht nach eigenem Geschmack
umgeschrieben veröffentlichen konnte. Wenn man bedenkt, dass Goethe dem
ehemaligen und früh verstorbenen Freund aus Straßburg Die Kindermörderin
als ein vermutetes Faust-Plagiat ein ganzes Leben lang nicht verzeihen konn¬
te,® so ist es tatsächlich schwer verständlich, wie jemand ein Goethe-Plagiat
in der unmittelbaren Umgebung des Dichterfürsten wagen konnte. Oder soll¬
te hier dieses Gedicht als eine heitere Parodie gelesen werden, an der eventu¬
ell Goethe selbst seine Freude fand? Auch dies ist schwer denkbar. Sind die
Beziehungen zwischen den beiden Gedichten überhaupt so eng, wie dies einem
beim ersten Lesen auffallen mag? Oder identifiziert man die Bezüge lediglich
auf Grund der Wiederholung des einmaligen Goethe-Wortes „Schwager Kro¬
nos“ und eventuell einiger unter dichterischen Aspekten unbedeutender Äu¬
ßerlichkeiten? Und schließlich stellt sich die Frage, die bereits eingangs an¬
gesprochen wurde, wie der Zugang von Sturm-und-Drang-Reminiszenzen in
eine repräsentative Anthologie der hochklassischen Jahre überhaupt möglich
war. Auf diese bunte Vielfalt von Fragen sollten folgende methodologisch
komplexe Überlegungen eine möglichst genaue Antwort geben. Hierzu dürften
zum einen die literaturhistorische Faktenerschließung im literatur- und kul¬
turhistorischen Umfeld des Gedichtes, zum anderen komparatistische Erwä¬
gungen seiner sprachlichen und poetischen Textbeziehungen und vor allem
der synchrone Umgang mit beiden Verfahrensweisen zum Ergebnis führen.

GOETHE UND DER VERFASSER DER ADAPTATION

Dass der Verfasser dieser An Schwager Kronos-Variante nicht Goethe war,
belegt nicht nur die der Goethe’schen Dichtung von ihren frühesten Anfängen
bis zu den letzten Gedichten höchst fremde Art der poetischen Attitüde dieses
Gedichtes.? Tatsache ist, dass Goethe seinen Beitrag zu den Kleinen Schriften,

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Bei aller Möglichkeit von thematischen Detail-Entlehnungen aus einer Faust-Variante der
mittsiebziger Jahre ist H. L. Wagners „Kindermörderin“ meines Erachtens in der individuellen
künstlerischen Gestaltung des Dramas von Goethes Einfluss weniger abhängig als das oben
zitierte Gedicht von dessen Vorbild.

So verlockend es auch wäre, sei hier nicht mit Differenzen im poetischen Niveau zwischen
diesem Gedicht und den beiden Goethe-Fassungen von 1774 und 1789 gegen die Verfasserschaft
Goethes argumentiert. Auf die der Goethe’schen Lyrik „fremde Art“ dieser Adaptation ver¬
suche ich allerdings im Weiteren noch einzugehen.

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