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SCHILLERS RAUBERLIED UND SEINE VARIANTEN AUF FLIEGENDEN BLATTERN

[8.]

Nur alle Frechheit fliehen wir,

Wie giftge Skorpionen.

Wer Tugend nicht zu schätzen weiß,
Der meide unsern Freundschaftskreis

Und mag beym Teufel wohnen.

Die logischen Beziehungen dieses Liedes zu den anderen Typen liegen auf der
Hand: Sämtliche Aussagen des moralischen Räuberliedes sind dem Gehalt von
Typ I diametral entgegengesetzt. Mit anderen Worten: die vier antithetischen
Doppelstrophen dieses Liedes lehnen jedwede Varianten amoralischen Ver¬
haltens Strophe für Strophe entschieden ab, wie diese im Sinne der menschen¬
unwürdigen (chaotischen bzw. anarchistischen) Freiheiten im Schillerdrama
sowie in den Liedern von Typ und Typ Ilzum Ausdruck kamen. Gleichzeitig
entwickelt Typ V die um die Jahrhundertwende in der literaturhistorisch re¬
präsentativen klassischen und romantischen Lyrik bereits als anachronistisch
geltenden Argumente für die Nützlichkeit kleinbürgerlichen Maßhaltens.

Diese Anschauungsweise war in der deutschen Literatur bereits fünfzig
Jahre zuvor geläufig gewesen. Das konsequente Befolgen der Moralnormen
eines weisen und zweckmäßigen Maßhaltens versprach in der ganzen Ent¬
wicklungsgeschichte der deutschen Aufklärung nicht weniger Nutzen, als dass
damit unabhängig von Raum und Zeit die ausgewogene Harmonie des Indivi¬
duums und der ganzen Sozietät praktisch realisiert werden sollte. Obzwar
solche und ähnliche Wolff-Gellert’sche 'Ihesen der deutschen Aufklärung in
der deutschen Philosophie- und Literaturgeschichte um 1803 nicht mehr ak¬
tuell waren, fanden sie in den nun auch zahlenmäßig wesentlich größer ge¬
wordenen Leserkreisen eine vielfach breitere Basis als zu Gellerts Zeit. Diese
Art von moralisch-didaktischer Poesie wurde um die Jahrhundertwende in
den zeitgenössischen Almanachen und Periodika quantitativ nur von der bereits
ebenfalls anachronistischen sentimentalen Dichtung überboten. Und obwohl
die aufgeklärte moralische Erziehungsstrategie in der unterhaltenden Flug¬
blattlyrik bereits zunehmend zu einem unpassenden ideologischen Fremd¬
körper wurde, war ihre Rezeption noch nicht ganz ausgeschlossen: Gerade
wegen der hohen Traditionsrelevanz der Trivialliteratur konnte ihr der unter¬
haltende Charakter noch nicht unbedingt abgesprochen werden. Besonders
wenn die aufgeklärten Moralnormen im Gewand eines derart weit verbreiteten
Flugblattliedes auftraten, wie es das Räuberlied war.

Die „moralische Räuberliedvariante“ setzt sich mit Ideen, Stellungnahmen
und poetischen Bildern der vier Strophen des 1803 verbotenen Typs I auseinan¬
der. Auf diese Weise folgen im Typ V viermal zwei bejahende bzw. verneinende
Strophen aufeinander: Von diesen Doppelstrophen entwirft die jeweils erste
Strophe die zu vertretenden idealen Normen vom sittlich-nützlichen Leben, die

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