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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE

interessen, kam durch Gedichte in der Flugblattdichtung wesentlich besser
zum Ausdruck als in der Lyrik der Periodika und Almanache, ganz zu schwei¬
gen von den Bänden zeitgenössischer moderner Lyriker.

Natürlich sind die jeweilige Aufnahme, die Häufigkeit sowie die Zahl der
Typen und Varianten oder eben die vollkommene Übergehung eines Gedich¬
tes innerhalb der Flugblattliteratur keineswegs entscheidend bei der Bestim¬
mung seines historisch entstandenen ästhetischen Wertes. Doch lassen sich
daraus wichtige Schlussfolgerungen über die zeitgenössische Rezeption ziehen,
was bei der Auswertung der Breitenwirkung der poetischen Produkte und der
Schriftsteller-Leser-Kontakte von außerordentlicher Bedeutung ist.

Innerhalb der „ungeheuren Fülle der Liederheftchen‘“,? gibt es auch viele
Lieder literaturhistorisch repräsentativer deutscher Dichter, naturgemäß jeweils
ohne jede Angabe des Verfassers und meistens mit rücksichtslosen Eingriffen
in die ursprünglichen Texte der Gedichte.”?Nach meinen Recherchen? sind
folgende deutsche Autoren in der deutschen Flugblattdichtung um 1800 mit
den meisten Gedichten vertreten: Christian Felix Weiße, Gottfried August
Bürger, Ludwig Heinrich Christoph Hölty und Christian Friedrich Daniel
Schubart. Neben dieser Lyrik begegnet man auf fliegenden Blättern besonders
oft und vielfach variiert manchen Gedichten von Ewald Christian Kleist, Johann
Peter Uz, Johann Heinrich Voß, Friedrich Leopold Stolberg und Johann Mar¬
tin Miller. Hin und wieder findet man auch Lieder aus früheren Perioden der
deutschen Literaturgeschichte, so von Martin Opitz, Georg Rudolf Weckher¬
lin und Johann Christian Günther. Selbstverständlich stand das Flugblatt auch
dem deutschen Volkslied offen, das natürlich dem unterhaltenden Flugblatt¬
liedgenre entsprechend ebenso umgearbeitet wurde wie das Kunstlied.

Beachtenswert ist es, dass Schiller wie auch Goethe in der Flugblattdichtung
wesentlich weniger vertreten sind als viele ihrer Zeitgenossen, und wenn man
von ihnen dieses oder jenes Gedicht auf dem Flugblatt antrifft, so z. B. den
Fischer oder Des Mädchens Klage, so ist die Häufigkeit dieser Gedichte mit
dem Traum von Uz, dem Rosen auf den Weg gestreut von Hölty, Als ich auf
meiner Bleiche von Weiße, Die Sonne sank in Thetis Purpurschooß von
E. Ch. Kleist, Ich Mädchen bin aus Schwaben von Schubart usw. nicht zu ver¬
gleichen.

Schillers Räuberlied bildet um 1800 eine regelrechte Ausnahme. Es steht
mit seinen Typen und Varianten neben denen des Schubart’schen Kapliedes

? Schenda, Rudolf: Volk ohne Buch. Studien zur Soziologie der populären Lesestoffe 1790-1910.
München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1977, S. 276.

3 Tarnöi, Läszlö.: Der freie Umgang mit den Texten. In: Tarnöi, Läszlö: Parallelen, Kontakte,
Kontraste. Budapest: 1998, S. 78-83.

* Tarnöi, Läszlö: Die spezifische Gattung der unterhaltenden Flugblattlieder. In: Tarn6i, Läszlö:
Verbotene Lieder und ihre Varianten auf fliegenden Blättern um 1800. Budapest: ELTE, 1983,
S. 21-26. (= Budapester Beiträge zur Germanistik, Bd. 11); sowie Tarnöi, Parallelen, Kontakte,
Kontraste (unter dem Titel „Die Quellen“), S. 56-59.

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