Man kann sich darüber manche Gedanken machen, wenn dies damals von den
„eleganten“ Kritikern und Lesern so gesehen war, was man alles beim Lesen
der Erwartung in Versen wie „Wenn seine schöne Bürde leicht bewegt / Der
zarte Fuß zum Sitz der Liebe trägt“ bzw. „Und alle Wesen seh ich Wonne
tauschen“ gedacht und geahnt hätte oder sich später bei der Begegnung mit
metaphorischen Ausdrücken wie „Kühn öffnen sich [...] die Kelche schon [...]
Die Welt zerschmilzt in ruhig große Massen, / Der Gürtel ist von jedem Reiz
gelöst, / Und alles Schöne zeigt sich mir entblößt“ vorgestellt hätte.
Noch mehr als diese Bilder widerstrebte allerdings den sentimentalen Er¬
wartungen der zeitgenössischen Leser die inhaltliche Motivierung des Ge¬
dichtes. Das Fernsein der Geliebten voneinander ist eine Grundvoraussetzung
körperlos sentimentaler Sehnsüchte, wenn diese nicht wie sonst so oft schon
von vornherein vollkommen gegenstandslos artikuliert werden. Dann aber
darf nach den ungeschriebenen Regeln der empfindsamen Poesie die Entfernung
keineswegs durch reale Hoffnungen auf eine gespannt erwartete Liebeserfül¬
lung aufgehoben werden, wie dies in der Erwartung der Fall ist. Ganz im
Gegenteil werden die empfindsamen Dichter dem Motiv der Entfernung erst
richtig gerecht, wenn diese (z. B. durch den Tod der oder des Geliebten, even¬
tuell mit dem Einblenden des Bildes vom Grab) stets unüberbrückbar bleibt
und auf diese Weise ewig währende Sehnsüchte garantiert, möglicherweise mit
der Darstellung langsamen Dahinwelkens der oder des Sehnenden (dieses
unter Umständen vergegenständlicht mit einer Träne auf der zarten Wange).
Das originale Schiller-Gedicht glüht dagegen vom Anfang bis zum Ende
vor euphorischer Erwartung der Geliebten. Leidenschaft beflügelt die Worte
in den Stanzen in einem ununterbrochen gesteigerten Aufwärts — der empfind¬
samen Modedichtung um 1800 in allen Details vollkommen fremd. Der Fluss
dieser Steigerung wird lediglich vor bzw. nach jeder Stanze jeweils mit einem
Vierzeiler kurz abgebrochen: Wobei in diesen (1., 3., 5., 7. und 9. Strophe) die
erregten Sinnesorgane durch Täuschungen (erst durch das Sichverhören, spä¬
ter durch das Sichversehen) zunehmend angespannt werden, lassen sie immer