OCR Output

LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE

ästhetische Ausstrahlung des Geheimnisses und nicht für die der Ideale.? (Nicht
einmal die Worte des Glaubens, die Nadowessische Todtenklage,” oder Licht
und Wärme, Breite und Tiefe und Die Kraniche des Ibykus?* erhielten die emi¬
nente Bewertung des Geheimnisses.)

Gedichte dieser gehaltstypologischen Gruppe fanden ihre populäre Form
erst ein bis zwei Jahrzehnte später in der damals bereits verwässerten Lyrik
Uhlands und seiner schwäbischen Landsleute, als die deutsche Poesie plötzlich
von Rittern und Burgfräulein zu wimmeln begann, wobei dies bedingt durch
die aktuell gewordene nationale Besinnung im ganzen deutschsprachigen
Europa bereits mit großem Publikumsinteresse (freilich trivialisiert und dem¬
entsprechend auch auf einem viel niedrigeren Niveau) konsumiert und nach¬
geahmt wurde. Durch den trivialen Funktionswandel war dies alles natürlich
etwas ganz anderes als das, was — allenfalls thematisch verwandt - Schiller
und die Frühromantiker (ohne entsprechenden Publikumserfolg) zu bieten
hatten. Als Schiller sich in den Jahren des ausgehenden 18. Jahrhunderts die¬
ser Thematik zuwandte, war dies noch alles ganz neu, jedoch nicht modisch,
sondern irritierend modern.

Wollte man also um 1800 mit Gedichten dieser Art nicht nur Körner, Wil¬
helm von Humboldt und Goethe? gefallen, sondern auch in den Kreisen der
breiteren Leserschichten Publikumserfolge erzielen, so war es angebracht, sie
durch entsprechende Eingriffe in die Texte dem zeitgenössischen Geschmack
näherzubringen, wobei man vor allem der ausschlaggebenden urbanen Mode
jener Jahre, der Empfindsamkeit, d. h. dem Sentimentalismus?® manche Zuge¬
ständnisse machen musste. Die scharfen Konturen der Bilder und Gefühle im
hellen Glanz der Begegnung bzw. der hohe Grad der Leidenschaft darin waren
für empfindsame Dichtung kaum zu gebrauchen. Umso mehr Wirkung ver¬
sprach das „schüchtern“ und „leise“ vorgetragene Geheimnis, beherrscht von
der „Stille“, den „dunklen Tönen“ und der „Nacht“ sowie in den abschließen¬
den Versen mit seinem lediglich ersehnten Glück. Das Bedrohtsein von außen
widersprach zwar einigermaßen den Normen der sentimentalen Poesie — setz¬
te es ja an sich schon empfindsamkeitsfremde Harmonien erfüllten Liebesglücks

22 Korner an Schiller. Dresden, den 2. Sept. 95, Mittwoch. In: SWN, Bd. 35. Hg. v. Giinter Schulz.
Weimar: Hermann Bohlaus Nachfolger, 1964, S. 323.

Körner an Schiller. Dresden, den 26. Febr. 1798, Montag. In: SWN, Bd. 37, Teil I., S. 255.

4 Korner an Schiller. Dresden, den 26. März 1798, Montag. Siehe SWN, Bd. 37, Teil I., S. 268.
5 Siehe dazu entsprechende Worte des Lobes aus dem letzten Quartal von 1797 von W. v. Hum¬
boldt und Goethe, zitiert u. a. in: Schiller: Sämtliche Werke. Gedichte. Bearbeitet von Jochen
Golz. Berlin / Weimar: Aufbau-Verlag, 1980, S. 789. (= Berliner Ausgabe, Bd. 1)

Der Begriff „Sentimentalismus“ hatin diesem Zusammenhang nur etymologische Beziehungen
zu Schillers Terminus „sentimental“, dessen Synonyme z. B. nach Goethe (siehe oben) „modern“,
„romantisch“ etc. waren. Zur trivial-sentimentalen Poesie des deutschen Stadtbürgertums um
1800 siehe meinen Beitrag unter dem Titel: Unterhaltungslyrik der „eleganten Welt“ in den
ersten Jahren des 19. Jahrhunderts. In: Impulse. Aufsätze, Quellen, Berichte zur deutschen
Klassik und Romantik. Berlin / Weimar: Aufbau-Verlag, 1982, S. 222-252. (= Impulse, Bd. 4.)

2

œ

a

26

+ 80 +