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ROMANTISCHES UND SENTIMENTALES
IM KONTEXT EINES MERKWÜRDIGEN SCHILLER¬
LIEDES AUS DEN HOCHKLASSISCHEN JAHREN!

Ob ein Dichter von seinen Zeitgenossen gelesen wird, ob eine Erzählung oder
ein Gedicht die vom Autor ersehnte Breitenwirkung in der Bevölkerung findet,
hängt gewiss von recht vielen Umständen ab. Möglicherweise fallen dabei am
wenigsten jene ästhetisch-poetischen Innovationen ins Gewicht, die, aus wel¬
chen Gründen auch immer, erst von der Nachwelt erkannt, Autor und Werk
für die Dauer zu literaturhistorisch repräsentativen Phänomenen erheben.

Bei dem Erfolg eines Gedichtes konnte schon immer die Tatsache, ob es
z.B. in einem medienwirksamen Periodikum erschien, in wesentlich höherem
Maße als die jeweilige poetische Leistung mitgewirkt haben. Umso mehr war
dies um 1800 der Fall, als die Medienlandschaft — bei Weitem nicht so auf¬
gefächert wie heute — noch nahezu ausschließlich von einigen periodisch er¬
schienenen Blättern und Almanachen besetzt war und auch die lesekundigen
Bürger gleichzeitig viel offener für belletristische Lektüren, sogar für Gedich¬
te, waren, als etwa hundert Jahre davor oder anderthalb Jahrhunderte danach.
Ausschlaggebend für die Aufnahme eines Liedes war dabei um 1800 recht oft,
ob es gleichzeitig oder ganz unabhängig davon auch von einem Komponisten
vertont wurde, besonders wenn dieser den musikalischen Modegeschmack
seiner Zeit mitzutragen verstand.

In den ersten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts in der Leipziger Zeitung
für die elegante Welt erschienen zu sein, versprach einem jeden Dichter beste
Aufnahmechancen bei den weitesten Kreisen des Stadtbürgertums im ganzen
deutschsprachigen Mitteleuropa. Durch diese von Siebenbürgen bis Frankreich
gelesene Zeitung war zumindest die quantitative Ausstrahlung eines jeden
Autors vielfach größer als durch irgendeinen meist lediglich für eine bestimm¬
te Region, manchmal auch nur für einen elitären Leserkreis geschaffenen
Almanach. Welche Bedeutung bei der Breitenwirkung eines Gedichtes außer¬
dem um 1800 seiner Vertontheit zukam, bestätigt u. a. Goethe in seinem Brief
an Schiller am 29. März 1802, in dem er dazu folgenden beachtenswerten
Hinweis gab: „Zelter hat sehr lebhafte Eindrücke zurückgelassen. Man hört
überall seine Melodien und wir haben ihm zu danken, dass unsere Lieder und
Balladen von den Toden erweckt worden.“?

! Studie vom Sommer 1999. In: Festschrift für Prof. Antal Mádl zum 70. Geburtstag. (=Buda¬
pester Beiträge zur Germanistik. Bd. 34. Budapest: ELTE, 1999), S. 281-297.

? Goethe an Schiller. Jena, den 19. März 1802. Freitag. In: Schillers Werke. Nationalausgabe [im
Weiteren: SWN]. Bd. 39. Teil 1. Hg. v. Stefan Ormanns. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger,
1988, S. 216.

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