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zu leisten war. Solche Bilder hatten vor Weimar mit den damaligen Ansichten
von der schöpferischen Tätigkeit, bzw. mit der poetischen Norm der Frank¬
furter Jahre kaum vereinbart werden können.

Den neuen präklassischen poetischen Ansichten widmete Goethe die in
Knittelversen geschriebene Erklärung eines alten Holzschnittes. Hans Sachsens
poetische Sendung.“ Heraufbeschworen wurde dazu nicht mehr der von der
„sturmatmenden Gottheit“ Jupiter Pluvius inspirierte und sich von allem Irdi¬
schen lösende Dichtergenius, sondern der nach tätigen Werktagen in der feier¬
lichen Sonntagsruhe der Welt nachsinnende Schuhmachermeister Hans Sachs.
Somit ging es aber in diesem Gedicht selbstverständlich auch nicht mehr um
die bloße Verehrung und die Wiederentdeckung des Nürnberger Meistersän¬
gers. Für Goethe gab dessen dichterische Charakteristik im Frühjahr 1776
vielmehr den Anlass, die eigenen, nun in Weimar neu durchdachten Ansichten
über die Poesie in einer ersten (poetischen) Form zu skizzieren. Es ist daher
kein Zufall, dass die allegorischen Figuren des Gedichts, die Hans Sachs zum
Dichter geweiht haben sollen, ihm vor allem „klare Sinnen“ schenkten, um die
wirkliche Welt und das wahre Leben in der „kunterbunten‘“, „wunderlichen“
und widerspruchsvollen Vielfalt, jedoch ohne jede verzierte Verschönung sehen
und sehen lassen zu können, so wie sie ihrem Wesen nach tatsächlich waren.
Durch diese Aussage erhielt auch der bereits früher geläufige Begriff „Natur¬
genius“ einen neuen Inhalt. An die Stelle des unbegrenzten subjektivistischen
Genies, das nach den früheren Ansichten dazu berufen war, aus dem Nichts
Welten zu schöpfen, trat somit das neue Dichterideal, das im Gestaltungspro¬
zess des Künstlers die Außenwelt auf sich wirken ließ, um auf sie durch das
fertige Kunstwerk produktiv zurückwirken zu können. Diese veränderte Auf¬
fassung vom schöpferischen Prozess in der und durch die Poesie widerspiegelt
den eigentlichen Grundstock der neu konstituierten Norm des Dichters.

Jener grundlegende Gedanke wurde im Gedicht mit weiteren Motiven der
neuen Anschauung über die Poesie ergänzt: Im Rahmen der allegorischen
Darstellungsweise erhielt der Dichter außer dem klaren Sinn symbolische Ge¬
schenke von exemplarischen Stoffen und Themen aus der Geschichte, der
Mythologie und der Fabelwelt, wie sie im Werk von Hans Sachs verwendet
wurden und deren naiv realistische und prinzipiell praktisch-nützliche er¬
zieherische Funktion -allerdings wie sie Goethe in diesem Gedicht interpre¬
tierte — eigentlich kaum einem poetischen Grundsatz des aufgeklärten Jahr¬
hunderts widersprochen hätte. Bei der Aufzählung der Themen des
Meistersängers hat Goethe diese praktische Aufgabe der, wie er sich ausdrück¬
te, weltlich Tugend- und Lastergeschicht des Dichters wiederholt als gut Ex¬
empel und gute Lehr extra hervorgehoben. Durch die neuen Möglichkeiten in
Weimar konnte ja auch Goethe dieser erzieherischen Funktion der Dichtung

# Goethe, Berliner Ausgabe, Bd. 2, S. 68-74.

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