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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE

früheren weltanschaulichen und ästhetischen Normen als die poetische Wi¬
derspiegelung und Komprimierung der durch die veränderten Umstände und
Verhältnisse bereits klar umrissenen neuen Ansichten. Die ersten entstanden
infolge des ungelösten Widerspruchs zwischen Vergangenem und Gegenwär¬
tigem, die letzteren nach den einsetzenden Erfolgen seiner Überwindung,
wobei der neue Gehalt sich letzten Endes freilich erst im Laufe der präklassi¬
schen Entwicklung des Dichters und darüber hinaus voll entfaltete.

Die neu errungenen Stellungnahmen in Goethes Lyrik erstreckten sich
nicht nur auf solche mehr abstrakten Schlussfolgerungen wie er sie z. B. aus
dem zu klärenden Verhältnis zwischen Individuum und objektiver Wirklichkeit
in Gedichten wie Erinnerung und Dem Schicksal zu ziehen versuchte, bzw. wie
er sie durch die Antizipation eines harmonischen Ausgleichs sämtlicher An¬
tagonismen u.a. in Jägers Nachtlied und dem ersten Wandrers Nachtlied ar¬
tikulierte. Sie reflektierten nämlich auch ganz konkrete Konsequenzen für die
eigene praktische Verhaltensweise des sich neu orientierenden Dichters und
des Staatsmanns, als er anfangs als freundlich aufgenommener und einfluss¬
reicher Gast des regierenden Herzogs, später, von der Mitte des ersten Jahres
an aber bereits als aktives Mitglied der Staatsverwaltung seine eigenen Wir¬
kungsmöglichkeiten ermaß. Gedichte wie Gib, das Tagwerk |...], Erklärung
eines alten Holzschnittes, Dem durchlauchtigsten Fürsten sowie Seefahrt ver¬
anschaulichen die ersten Folgen dieser praktisch-theoretischen Neuorientie¬
rung in Goethes Lyrik auf das prägnanteste mit Bekenntnissen von der Über¬
zeugung, in Weimar sinnvoll handeln zu können und mit Gedanken, Aussagen
und Dokumenten über die neukonzipierte Funktionsbestimmung der Dichtung,
über die „Fürstenerziehung“ sowie über die aus taktischen Gründen für not¬
wendig erachtete Veränderung der persönlichen Verhaltensweisen im Inter¬
esse der eigenen Wirksamkeit am Weimarer Hof.

Optimistische Zuversicht über die Realisierung der ehemaligen „Träume“
durch die sinnvollen, alltäglichen und handfesten Anstrengungen in Weimar
brachte z. B. das kleine Gedicht Gib, das Tagwerk |...],”” zum Ausdruck:

Gib, das Tagwerk meiner Hände,
Gutes Glück, dass ich’s vollende!
Sei ein Bild der Garten hier:
Pflanzt ich ahndungsvolle Träume,
Jetzt noch Stangen, diese Bäume

Geben einst noch Schatten mir.
Im Gedicht waren außer dem Gehalt auch die Tropen des Grundgedankens

ganz neu, mit Bildern wie „Tagwerk“, das mit den „Händen“ in einem „Garten“

# Goethe, Gib das Tagwerk. In: Berliner Ausgabe, Bd. 2, S. 571. Auch dieses Gedicht wurde für
die erste Werkausgabe (unter dem Titel „Hoffnung“) umgearbeitet.

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