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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE

wurde, enthalt aber die metaphorische Substanz der Antithese auch die laten¬
te Gegenüberstellung von konstantem Fortbestand und steter Veränderung
nicht nur der Welt, sondern auch des Weltbildes des Menschen. Das Motiv der
„beständigen Unbeständigkeit“ wird dieses Mal (dank der durchaus möglichen
erweiterten Lesart) metaphorisch von der materiellen Welt auch auf die un¬
berechenbaren Veränderungen im geistigen Leben des Menschen übertragen.

Die heliozentrische Sicht des Universums und der steten Bewegungen aller
Himmelskörper verkündet dagegen in der mystischen Metaphorik des Angelus
Silesius konsequent harmonische Empfindungen im Sinne der Unio mystica, der
mystischen Vereinigung der Seele des Menschen mit Gott. Begriffpaare wie Son¬
ne — Mond, Sonne - Erde, Sonne - Planeten, Sonne — Mensch, Lichtstrahl - Zu¬
rückspiegelung etc. haben in dieser Dichtung nichts mit den üblichen Barock¬
Antinomien gemeinsam. Sie sind jeweils metaphorische Träger des harmonischen
Einklangs von Schöpfer und Schöpfung, Gott und Welt bzw. von Gott und vom
Menschen. Freilich hat in dieser Poesie die dem christlichen Glauben verpflich¬
tete mystische Aufhebung des Gegensatzes zwischen materieller und geistiger
Welt keinerlei gehaltstypologische Beziehungen zum frühaufgeklärten „Brücken¬
schlag“ zwischen Mensch, Natur und Gott, wie dies in Deutschland in der ratio¬
nalen Gedankenlyrik von Brockes nach 1720 seinen Ausdruck fand.

Eines der schönsten Gedichte der Geistreichen Sinn- und Schlussreime von
Angelus Silesius ist das, in dem er - einerseits Bewegungen (d. h. eigentlich
Lage- und Ortsveränderungen) in der kosmischen Welt und andererseits Be¬
wegtheit (d. h. innere Bewegung, Ergriffenheit, Rührung) im Menschen in
metaphorische Beziehung gebracht - die universale Einheit der von Gott ge¬
schaffenen Welt nachempfinden lässt. Dabei folgt der Dichter sowohl mit den
bewegten Bildern wie auch mit deren versierter poetischer Ausdrucksweise
den bereits vielfach erprobten Traditionen der deutschen Barocklyrik:

Angelus Silesius: Wer nicht bewegt wird / gehört nicht zum Ganzen“

Die Sonn’ erreget all’s / macht alle Sterne tanzen;
Wirst du nicht auch bewegt / so g’hörst du nicht zum Ganzen.

Dem Gehalt nach gehört aber dieses Gedicht mit seinen kosmischen Metaphern
zu den Ausnahmen. War z. B. der ebenfalls Schlesier Friedrich von Logau über
die Tatsache der vielen Sonnensysteme im Weltall - ähnlich wie Angelus
Silesius®’ — informiert, so verband er diese Kenntnis metaphorisch mit dem

66 Silesius, Angelus: Der cherubinische Wandersmann oder Geistreiche Sinn und Schlussreime
zur Göttlichen Beschaulichkeit anleitend. Sechstes Buch. 1675. Nr. 42. In: A. S.: Sämtliche
poetische Werke und eine Auswahl seiner Streitschriften. Mit einem Lebensbilde. Bd. 1. Hg. v.
Georg Ellinger. Berlin: Propyläen-Verlag, [1923], S. 233.

6 Siehe das im 3. Teil dieses Beitrags bereits zitierte Gedicht v. Angelus Silesius mit dem Titel
„Es sind viel tausend Sonnen“. Ebd., Erstes Buch, Nr. 141. S. 41.

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