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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE

DiE METAPHER ALS „KÖNIGIN“ DER POETISCHEN FIGUREN
IN DER DEUTSCHEN BAROCKLYRIK

Gewiss bestimmt die jeweilige rhythmisch-melodische Beschaffenheit der
Gedichte den auffallendsten Unterschied zwischen Prosatexten und Versdich¬
tungen. Wenn man daher keine anderen Determinanten der Versdichtung
berücksichtigte, so würde man an der deutschen Barocklyrik nur wenig Freu¬
de finden. Trotz mancher beeindruckender Neuerungsversuche und Experi¬
mente im deutschen Versbau sowie in den Strophenformen z. B. von Philipp
Zesen und den Nürnberger Pegnitzschäfern übertönen in dieser Poesie doch
alles die unzähligen Alexandriner über hundert Jahre hinweg von Martin
Opitz’ Trostgedichten”” bis weit über das Ende des Jahrhunderts hinaus — bis
etwa Die Alpen? von Albrecht Haller.?!

Zum Glück wird aber der Wert eines Gedichtes gleichzeitig von einer gan¬
zen Reihe anderer Eigenheiten mitbestimmt. Unter ästhetisch-poetischen
Aspekten dürfte dabei eine hervorragende Bedeutung den Bildern und Gleich¬
nissen und vor allem der Verschmelzung beider Bestandteile der letzteren zu
Metaphern zukommen. Durch diese entstehen eminente poetisch-ästhetische
Wirkungen der verdichteten Begriffe und Bilder, wie dies auch sprachlich mit
dem deutschen Verb dichten bzw. mit Substantiven wie Gedicht, Dichtung,
Dichtkunst oder Dichter so zutreffend ausgedrückt wird.” Denn die mehr oder
weniger lockeren oder festen Beziehungen sowie die möglichen Spannungen
innerhalb der „verdichteten“ Substanz der jeweiligen Metaphern (in denen
eigentlich der vergleichende sowie der verglichene Part von Gleichnissen mit¬
einander latent verbunden sind) ermöglichen vielerlei individuelle schöpferische
Zugänge des Lesers zum poetischen Werk.

Welch große Bedeutung die deutschen Barockdichter der Metaphorik und
zwar sich dessen voll bewusst beigemessen haben, beweisen nicht nur ihre
schönsten Gedichte, sondern auch ihre theoretischen Stellungnahmen.

Sigmund von Birken hat z. B. in seiner Poetik die notwendige „Dichte“ des
jeweiligen sprachlichen Ausdrucks als eine unerlässliche Voraussetzung poe¬
tischer Leistungen gewürdigt:

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Martin Opitz’ „Trostgedichte In Widerwertigkeit dess Krieges“ wurde 1620/21 verfasst, sie
bestanden aus 2300 Alexandrinern!

Albert Haller veröffentlichte „Die Alpen“ im Jahre 1729 mit 490 Alexandrinern.

Carl Friedrich Drollinger beklagte sich in seinem 1743 veröffentlichten Gedicht „Über die
Tyrannei der deütschen Dichtkunst“ mit ironischen Worten über den langweilig einschlä¬
fernden ,,Tic und Tac“ der Doppelverse, d. h. der barocken Alexandriner. Siehe auch Schnitt¬
punkte, Bd. 1, S. 277.

Diese meine etymologischen Überlegungen siehe in anderen Zusammenhängen in Schnitt¬
punkte, Bd. 1, S. 195.

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