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XII. DEUTSCHSPRACHIGE UNGARNBILDER UM 1800!

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Die Bilder, die sich ein Volk oder eine unter gewissen Aspekten mehr oder
weniger homogene Bevölkerung eines geographischen Raumes von Land
und Leuten einer anderen Region macht, sind jeweils Vorstellungen, die
lediglich approximative Kenntnisse von dem Abgebildeten (in unserem Falle
von dem Vielvölkerkönigreich Ungarn um 1800) vermitteln, gleichzeitig
aber auch wichtige Informationen über die Schöpfer der Bilder (diesmal
von deutschsprachigen Europäern) enthalten. Die Distanzen zwischen den
Erkennenden und den zu Erkennenden können nie restlos aufgehoben werden;
die den ständigen Änderungen ausgesetzten Korrelationen im jeweiligen
Subjekt-Objekt-Verhältnis der Erkenntnisprozesse relativieren beiderseitig das
entstehende Länder- bzw. Völkerimage. So können auch die deutschsprachige
Vorstellungswelt über das ungarische Königreich um 1800 und die sozial- und
kulturhistorisch bestimmte ungarische Wirklichkeit weder in den Details
noch in der umfassenden Gesamtheit deckungsgleich sein.

Welche große Bedeutung den regionalbedingten subjektiven Faktoren
bei der Entstehung der einzelnen Länderbilder zukommt, veranschaulichen
u. a. die stark divergierenden Polenbilder der Deutschen und der Ungarn,
die in Vergangenheit und Gegenwart in hohem Maße unterschiedlichen
Türkenbilderin Deutschland undin Ungarn, aberauch diegrundverschiedenen
historischen Franzosenbilder und sogar die geringfügigeren Abweichungen
in den Italienbildern der beiden Länder. Das Problem ist andererseits, dass
man wohl annehmen könnte, dass sich das jeweilige Gesamtbild auf Grund
einer Reihe von einzelnen Bildern zusammensetzt. Merkwürdig ist dabei nur,
dass diese These auch umgekehrt ihre Richtigkeit hat: Auch das schon immer
vorhandene Gesamtbild prägt nämlich die individuellen Bilder, die höchst
individuellen poetischen Metaphern miteinbegriffen. Bei der Erarbeitung
der Völker- und Länderbilder scheint sogar der deduktiven Denkweise
eine größere Bedeutung zuzukommen als der Zusammenfügung induktiv
erwogener Einzelschlüsse.

! Die ursprüngliche Fassung dieses Kapitels wurde als Konferenzvortrag am 25. Mai 1995

während einer Tagung der Südosteuropa-Gesellschaft in Hamburg gehalten und erschien in
Fischer, Holger (Hg.): Das Ungarnbild in Deutschland und das Deutschlandbild in Ungarn.
München: Südosteuropa-Gesellschaft, 1996, S. 31-45.

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