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4. EIN MERKWÜRDIGER UNGARNBERICHT VON 1803

„Adressaten“ wurde vorgeworfen, was in der Schmähschrift über sie nirgends
belegt war, was aber der „Absender“ mit der Schmähschrift in allen Details
praktizierte: die „Herabwürdigung“ aller „Anderen“.

Der Preßburger Korrespondent deutscher Nationalität befasste sich bei
seinen meist ironisch vorgetragenen Erwägungen über Ungarn eigentlich
nur mit dem Rückstand des Landes, insbesondere seiner magyarischen
Bewohner und deren mangelnder Kultur. Irritierend für den Verfasser der
Merkur-Studie war aber nicht nur diese teils falsch, teils einseitig negativ
ausgefallene Bilanz. Inakzeptabel war auch, dass die Ursache derselben nicht
im Geringsten mit irgendwelchen objektiven sozialhistorischen Umständen,
sondern ausschließlich mit mehr oder weniger mangelnden subjektiven
Veranlagungen der hauptsächlich ungarischen Bewohner des Vielvölker¬
staates erklärt wurde.

Der Merkur-Autor unternahm die schwierige Aufgabe, mit einer Reihe von
Gegenargumenten und Fakten das entstellte Ungarnbild der Leipziger Zeitung
für die elegante Welt für seine Leser zurechtzurücken. Hierzu demonstrierte
er mit einer Reihe ausführlicher Informationen und mit vielen Beispielen die
zeitgenössischen Resultate des kulturellen Aufstiegs in Ungarn. Da von der
herabwürdigenden kritischen Attitüde des Preßburger Leserbriefes in erster
Linie die Magyaren getroffen wurden, hat der Merkur-Korrespondent freilich
versucht, deren Leistungen ins Zentrum seiner Besprechung zu stellen. Dass
dabei das „Lob“ der Magyaren und die Kritik an manchen Schwächen der
Ungarndeutschen hin und wieder mit viel zu scharfen Zügen ausgefallen
sind, dürfte dem Genre der Streitschrift und dem Temperament des Autors
zugeschrieben werden. Zum Beispiel erhielt beim Vergleich der in jenen
Jahren erschienenen deutschsprachigen und ungarischen Dichtung des
Königreichs* sowie bei der Gegenüberstellung des deutsch-evangelischen
und ungarisch-reformierten Schulunterrichts (in der Zips und in Debrecen)
jeweils die magyarische Seite die bessere Note. Tatsache ist dabei, dass die
Richtigkeit dieser Urteile im Grunde genommen eigentlich in beiden Fällen
undiskutabel ist.

Es ist eigentlich schade, dass sich dieser Merkur-Autor manchmal dochnoch
von dem Prefiburger Leserbrief in die Sackgasse der ,Vôülker-Charakterologie“
führen ließ. Als er nämlich in seinem Beitrag dem einseitigen positiven
Angebot der schematischen „slawischen“ und der „deutschen“ Charakterzüge
seine nicht minder undifferenzierten negativen Klischees entgegenstellte,
kam er genau dort an, wogegen er seine Gedanken in zwei langen Aufsätzen
in Worte fasste.

® Im Zusammenhang mit den Niveauunterschieden der ungarndeutschen und ungarischen
Dichtung und deren Ursachen verweise ich auf meine Studie: Typologische Verknüpfungen
deutscher und ungarischer Dichtung in der ungarndeutschen Lyrik um 1800. In: Neohelicon.
Acta Comparationis Litterarum Universarum, Jg. 19, H. 1 (1992), S. 35-48.

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