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6. „LITERARISCHE“ BRIEFE

wurde. Jeder Brief, d. h. jede „schriftliche Mitteilung an Entfernte“ ist
daher zumindest offen dafür, den ursprünglich zum mündlichen Vortrag
bestimmten freien Lauf der Worte wenigstens einigermaßen zu verdichten.
Zu Bedenken gebe ich hierbei, dass die Poesie im Deutschen Dichtung genannt
wird, ihre Autoren Dichter, und das Verb dieser poetisch schöpferischen
Tätigkeit dichten.

Zweitens müssen sich auch nur einigermaßen anspruchsvolle Verfasser
von Briefen auch darüber Gedanken machen, wie sie die selbstverständlichen
und meistens in hohem Maße aussagekräftigen Begleiterscheinungen
der jeweiligen mündlichen Mitteilung, so z. B. mimische Ausdrücke,
Gestikulation, Sprechmelodie, Betonung etc. durch verschiedene bewusst
angewandte Stilmittel, eventuell durch strukturelle Einfälle, ersetzen.

Schließlich können - oft sollen ja auch - alle Briefe vom Adressaten
wiederholt gelesen werden. Scripta manent. Auch diese Tatsache mag die
jeweiligen Absender von geschriebenen Botschaften bei der Wahl und der
Formgebung ihrer Worte, ja sogar bei der Entscheidung für inhaltliche Details
zum bewusst sorgfältigen, wirksamen, ja mehr oder weniger poetischen
Umgang mit dem eigentlichen Text bewegen, wenn ein Brief verfasst wird
bzw. wenn eine mündliche Mitteilung, aus welchen Gründen auch immer, in
eine schriftliche umgesetzt wird. So dürfte eigentlich keinem Brief wenigstens
ein gewisses Maß an Poetischem abgesprochen werden.

Wenn aber dies angenommen werden kann, so gilt es nicht nur für
sogenannte literarische Briefe, dass sie mehr oder weniger Beziehungen
zu sämtlichen literarischen Hauptgattungen aufweisen mögen, wie diese
um 1800 etwa von Goethe und Hegel auseinandergehalten wurden. Durch
die subjektive Unmittelbarkeit bzw. die direkte „Ich-Aussage über erlebte
Wirklichkeit“ des Briefes einerseits und durch berichtete, erzählte Ereignisse
aus der Vergangenheit, wie Hegel es behauptet, „für die innere Vorstellung als
objektiv dargestellte Wirklichkeit“ andererseits fließen im Brief — natürlich
jeweils im unterschiedlichen Maße - Iyrische und epische Attitüden
organisch ineinander.

Bedenkt man dabei, dass die Literatur der Briefdefinitionen bis zur
jüngsten Zeit wiederholt auf die klassischen Worte des Bibliographen
Artemo zurückgreift, nach dem jeder Brief „die Hälfte eines Dialogs“
sei,” dürfte auch die These vertreten werden, dass der Brief durch den
entsprechenden Briefwechsel zum vollständigen Dialog entwickeln kann
bzw. dass er unter Umständen — wie Regina Nörtemann behauptet — „das
Gespräch, den Dialog [...] nachahmt“. Damit entstehen aber auch manche

2 Siehe z. B. Nickisch, Brief, S. 4 f; Nörtemann, Regina: Brieftheoretische Konzepte im 18.
Jahrhundert und ihre Genese. In: Ebrecht, Angelika / Nörtemann, Regina / Schwarz, Herta
(Hgg.): Brieftheorie des 18. Jahrhunderts. Texte. Kommentare. Essays. Stuttgart: Metzler,
1990, S. 213.