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VIII. EINE GATTUNG OHNE GRENZEN...

ausgeartet.’ Dies war aber bildungshistorisch für die kulturelle Entwicklung
in den ungarischen Städten von enormer Bedeutung. Der „Lesehunger“
der deutschsprachigen Stadtbevölkerung des Königreichs konnte nämlich
nicht mehr unbefriedigt bleiben, wie auch das neu entstandene Bedürfnis
des Schreibens in ihren Kreisen nicht mehr zu drosseln war. So entwickelte
sich auf den letzten Wogen der Aufklärung im Königreich Ungarn um 1800
mit zwingender kulturhistorischer Notwendigkeit eine weit aufgefächerte
deutschsprachige Briefkultur, ganz ähnlich wie diese sich in Deutschland von
der Mitte des 18. Jahrhunderts an verbreitete.

Die Kürze und die leicht zugängliche Deutlichkeit, der informative
und persönliche Charakter und vor allem der gebotene Freiraum im Brief
zwischen Subjektivem und Objektivem innerhalb der jeweiligen Ausführung
von Gedanken und der Darstellung von Tatsachen und Eindrücken schufen
eminente Voraussetzungen für authentische Überzeugungskraft und
Sachlichkeit, mit denen man den wirkungsstrategischen Grundpositionen der
Aufklärung - vor allem der Wissensverbreitung und dem Erziehungswillen
— auf unterhaltsame Weise gerecht werden konnte. Der Brief war daher im
aufgeklärten Deutschland und in Ungarn nicht nur eine Gattung, nicht einmal
nur eine bestimmte Textsorte, sondern auch eine Stilart, eine Möglichkeit
des wirksamen Ausdrucks, mit der man eigentlich in allen literarischen
Gattungen genreübergreifend umzugehen verstand.

Die deutschsprachigen privaten Briefe undan die Öffentlichkeit adressierten
Leserbriefe und Korrespondenznachrichten aus Ungarn vor und nach 1800
können meistens nicht nur voneinander, sondern auch von Reiseberichten,
Tagebüchern, von damals vielfach sogenannten „Bemerkungen“, außerdem
von manchen wissenschaftlichen Abhandlungen, amtlichen Meldungen,
Annoncen und Werbetexten und schließlich von vielen belletristischen
Prosatexten nicht mit befriedigender Exaktheit getrennt werden. Der
überwiegend größte Teil der Briefe repräsentiert sich demnach nahezu
ausschließlich in verschiedenen Mischformen, wobei der Brief jeweils auch
etwas anderes ist als Brief. Aus der riesigen Menge führe ich hier für die
Vielfalt der verschiedenen Briefformen sowie deren gattungstypologischen
Verflechtungen die folgenden Beispiele an.

° [- -]: Über den Charakter der drey Hauptnationen Ungarns und den Zustand der dasigen
Literatur. [1. Teil] In: Der Neue Teutsche Merkur, 1803, Bd. 3, H. 2, S. 433-458. In:
Deutschsprachige Texte aus Ungarn, Bd. 3, S. 167. Mehr darüber siehe in Kap. X1/4.

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