3. DIE VERUNSICHERTE IDENTITAT — POESIE ENTTAUSCHTER DEUTSCHUNGARN
gerade umgekehrt, insgesamt ein Fünftel der ungarischen aus.°® Hinzu kam
zwischen 1820 und 1848 der unvergleichbare Aufstieg der ungarischen
Literatur, insbesondere der Lyrik, schließlich mit weltliterarischen Spitzen¬
leistungen von Mihäly Vörösmarty, Sándor Petőfi und János Arany.
Die deutschen Lyriker bedrückte gleichzeitig die Jahr für Jahr zunehmende
sprachliche Intoleranz ihrer ungarisch schreibenden Landsleute. Diese schien
etwa anderthalb Jahrzehnte vor 1848 nicht mehr nur deutsch schreibende
Magyaren getroffen zu haben — wie z. B. den Grafen Mailáth und noch mehr
den Erzbischof Ladislaus Pyrker in den Jahren der berüchtigten Pyrker¬
Debatte um 1830. Kurz nach der Veröffentlichung des Gedichtbandes Perlen
der heiligen Vorzeit im Jahre 1821 in Ofen wurde der Verfasser, der (eigentlich
zweisprachige) Ladislaus Pyrker von manchen Zeitgenossen scharf kritisiert,
da er sich bei der Wahl der Sprache als Dichter Ungarns nicht für die
ungarische, sondern für die deutsche Sprache entschieden hat. Die kritischen
Stellungnahmen mündeten 1830 in einen heftigen Streit, als Ferenc Kazinczy
diese Gedichte ins Ungarische übersetzte.”
Spätestens aber im Jahre 1834, als das anonyme Epigramm des damals
bedeutendsten ungarischen Dichters, Mihäly Vörösmarty gegen den hochge¬
bildeten Karl Georg Rumy“ erschien, musste für alle ungarndeutschen
Autoren ihre Diskriminierung durch die ungarischen Literaten deutlich
werden." Das Epigramm lautet in der ein halbes Jahrhundert später
veröffentlichten deutschen Nachdichtung des Germanisten Gusztäv Heinrich
folgendermaßen:
Was du slowakisch denkst, das erzählst du küchenlateinisch,
Gibst es in schlechtem Deutsch schließlich auch noch in den Druck.
Möge Apoll dich auch fürder in deiner Weisheit erhalten,
Die ein Babel auf neu bietet dem Menschengeschlecht.??
In: Jahrbuch des deutschen Elements in Ungarn, S. 6.
% A Pyrker-vita.1830-1834 [Die Pyrker-Debatte. 1830-1834]. In: Tollharcok [Federkriege].
Hg. u. Anm. v. Anna Szalai. Budapest: Szépirodalmi Könyvkiadó [Verlag für Literatur], 1981,
S. 125-166, 572-582.
Karl Georg Rumy war durch einen Großvater zwar von ungarischer adliger Herkunft, aber von
Geburt an in jeder Hinsicht ein typischer Vertreter der ungarndeutschen stadtbürgerlichen
Intellektuellen aus der Zips.
[Vörösmarty, Mihaly]: Rumynak [An Rumy]. In: Kritikai Lapok. Hg. v. József Bajza. Pest,
1834, H. 4, S. 160.
2 Heinrich, Gusztáv: Karl Georg Rumy. Ungarische Revue, 1881, S. 359. Heinrich hatte
das in , Kritikai Lapok“ anonym erschienene Epigramm falschlich dem Herausgeber der
Zeitschrift, Jözsef Bajza zugeschrieben. (Auch Karl Georg Rumy war zeit seines Lebens von
Bajzas Urheberschaft überzeugt.) Ebd., S. 358.