4. MODIFIZIERTE UNGARNBILDER: INLANDISCHE SONDERFALLE
Der Literaturwissenschaftler Ludwig Schedius und der Literaturorga¬
nisator Christoph Rösler versuchten Therese von Artner für ihre Almanach¬
Programme zu gewinnen. Der Grund dafiir war ihr zweifellos ausdrucksvolles
poetisches Talent. Gewiss konnte niemand im Königreich überzeugender als
sie den in Deutschland gängigen Modetrends der städtischen Lesekultur”
gerecht werden, wie diese um 1800 in der zeitgenössischen Almanach- und
Journaldichtung gegenwärtig war. Beeindruckend waren auch die einmalige
Formenvielfalt (von den klassizistischen Versen und Strophenformen bis
zu den volkstümlich anmutenden poetischen Texten) sowie der Reichtum
der Ihemen und Genres ihrer Gedichte (Lieder, Epigramme, Balladen,
Oden, Fabeln).
Was sie vor und nach 1800 mit den deutschsprachigen Intellektuellen
des Königreichs verband war allerdings außer ihrem christlichen Glauben
und ihrer Offenheit für die geistigen Werte der zeitgenössischen deutschen
Kultur ihre entschiedene Ablehnung jeder Gewalt, wie sie dies in der Zeit der
jakobinischen Diktatur in den lehrhaften Schlusszeilen einer ihrer Fabeln mit
aller Deutlichkeit zum Ausdruck brachte:
Es giebt euch Sclaverey, wenn ihr nach Freyheit schmachtet,
Es stürzt euch tief, wenn ihr nach Ruhm und Größe trachtet!
Der Sultan und das Volk hegt gleichen Wankelsinn,
Der lohnt euch durch den Strick, dies durch die Guillotinn’. °*
Für Therese von Artner war aber Ungarn unter unserem Aspekt weder die
Heimat noch die Fremde. Dass sie dort lebte, war für sie eine Art Selbst¬
verständlichkeit — so auf diese Weise eigentlich nie fremd. Dass sie zu dieser
Umwelt, zum jeweiligen Ort, zu den dort lebenden Menschen und ihrer
Denkungsart kaum Beziehungen entwickelte, wenigstens solche in ihrer
Dichtung nur ganz selten reflektierte,?® wurde diese ihre Umwelt für sie auch
nie die eigentliche Heimat in engerem und breiterem Sinne des Wortes.
® Sie war damals zum Teil spätaufklärerischen Tendenzen und größtenteils dem
Sentimentalismus verpflichtet. Vgl. dazu Tarn6i, Läszlö: „Unterhaltungslyrik der »eleganten
Welt« in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts“. In: Impulse. Aufsätze, Quellen, Berichte
zur deutschen Klassik und Romantik. Berlin / Weimar: Aufbau-Verlag, 1982, S. 222-252.
(= Impulse Bd. 4.)
34 Artner, Therese von: Der Hengst. Eine Fabel, 1793. In: Feldblumen auf Ungarns Fluren
gesammlet von Nina und Theone. Bd. 1. Jena: J. G. Voigt, 1800, S. 69-74. In: Deutschsprachige
Texte aus Ungarn, Bd. 1, S. 16-18.
35 Eine beachtenswerte Ausnahme ist „Der Kirchtag“ v. Therese Artner mit der detaillierten
Darstellung eines Volksfestes in Hexametern [angegebenes Entstehungsjahr: 1796] in der
Art der etwa gleichzeitig entstandenen deutschen Idyllendichtung. In: Deutschsprachige
Texte aus Ungarn, Bd. 1, S. 38 ff.