6. UNGARISCHES LOKALKOLORIT IN DER UNGARNDEUTSCHEN LYRIK
so zaudere nicht
Morgen zu kommen zu mir, zum freundlichen Mahle; es harret
Deiner ein niedlich Gericht, dir zu gefallen bereit.
Auch am Weine soll uns, und was Freunde sich tischen,
Nichts gebrechen, die Würz gibt ein vertrautes Gespräch.
Nach dem Speisen erquick’ uns der Trank von arabischen Bohnen,
Und des Kanasters Dampf schließe den frohen Genuß.°°
Ofner und Pester Stadtatmosphäre bietet das Gedicht Wie war mir da! des
Franz von Boros aus den Ungrischen Miscellen von 1805 von einer ganz
anderen Seite. Die skizzenhafte Einblendung des beabsichtigten Selbstmordes
einer im Elend verlassenen Mutter zweier Kinder am städtischen Donauufer
bereichert die zeitgenössische Pest-Ofner Poesie um die Sicht auf soziale
Spannungen in einer werdenden Großstadt:
Wild schäumend fluthete heran
Die Donau. Und ich gieng ihr zu;
Denn tobend selbst gefällt es mir,
Der nützliche, der schöne Strom!
Da sah ich schrecklich anzusehn
Zween Kinder, die fast bloß am Leib
Die Mutter fest umklammerten —
Und ich vernahm die Worte noch:
„Nach durchgebrachtem Geld und Gut
Verließ er mich“ - hilf großer Gott
„Und nimm dich meiner Kinder an!“
Sie sprachs. Ihr wilder starrer Blick
Verrieth zum Selbstmord den Entschluß.®!
Ein Bild wie dieses widerspricht um 1800 allen thematischen und gehalts¬
typologischen Strukturen der ungarländischen Poesie. (Es wird eigentlich
erst sieben Jahrzehnte später in der Budapester Poesie modern.??) Trotz aller
Originalität weist aber das Gedicht wegen seines philanthropisch lehrhaften
Abschlusses — der Selbstmord wird mit der wohltätigen Gabe eines „Dreyers“
verhindert — eher dokumentarische und motivhistorische als ästhetisch¬
poetische Werte auf.
® Halitzky, Andreas Friedrich: Epistel an Ign. Frölich, Pest d. 1. Mai. 1795. In: Musen¬
Almanach von und für Ungern auf das Jahr 1804, hg. v. Christ. Rösler. Pest: Verlag bei
Konrad Adolph Hartleben, 1804, S. 33 f. In: Deutschsprachige Texte, Bd. 1, S. 149 f.
Boros, Franz von: Wie war mir da! In: Ungrische Miscellen, 1805, H. 3, S. 92 f. In:
Deutschsprachige Texte, Bd. 1,5. 72.
Siehe z. B. die ungarische Ballade , Híd-avatás" (1877) v. János Arany.