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1. ALLGEMEINER ÜBERBLICK Diese um 1800 im ganzen deutschen Sprachraum verbreitete Doppelfunktion wirksamer Trivialdichtung begründete Rösler drei Jahre spáter auch damit, „daß Scherze und Liebe [...] nothwendig zu unserer besten Welt gehören“.?° Freilich erhielt dabei die sentimentale Empfindung, „das süße Eigenthum des gefühlvollen Leidenden“”! sowohl in der poetischen Praxis als auch in der Theorie in Ungarn nicht anders als in Deutschland doch etwas mehr Ansehen als der geistreiche Esprit. Gedichte, wie z. B. das empfindsame An die Erinnerung von der Gräfin J. v. P.,*? und das „witzige“ Geständnis der unbekannten „Marie“,?’ entsprachen in diesem Sinne allen kulturhistorisch bedingten Erwartungen jener Zeit." Dass man dabei dieses oder jenes, meist Jahrzehnte früher entstandene und seither anerkannte Gedicht (von Gleim, Uz, Pfeffel; von den neueren Goethe, Kosegarten, Schiller, Matthisson) nachahmte, galt um 1800 weder in der deutschen noch in der ungarischen Dichtung als geistiger Diebstahl. Im Gegensatz dazu war man etwa bis zum zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts stolz, wenn man manche für gelungen gehaltenen poetischen Erzeugnisse richtig nachempfinden, ja sogar „nachmachen“ konnte. Die Ungarn brauchen nur den von Ferenc Kazinczy auf das höchste Piedestal der Dichtkunst gesetzten Janos Kis zu lesen. Der Nachweis der deutschen Quellen seiner Gedichte würde wohl kaum etwas Originales übrig lassen.” Von den deutschen und ungarischen Modetendenzen und -schemata hoben sich freilich die besten Gedichte der ungarndeutschen Lyriker durch die in diesen vielfältig artikulierten authentischen Beziehungen zu Ungarn ab: Die ungarischen Geschichtsbilder (von Gruber, Bredetzky, Unger und Köffinger), das patriotische Engagement (von Dorion, Rösler, Lübeck, und Rösler, Christoph: Vorrede. In: Musen-Almanach von und für Ungern auf das Jahr 1804. Hg. v. Ch. R., Pest: Verlag bei Konrad Adolph Hartleben 1804, S. VI. Siehe auch Deutschsprachige Texte aus Ungarn, Bd. 1, S. 339. (Hervorhebung L. T.) Rösler, Christoph: Vorrede. In: Musenalmanach von und für Ungarn auf das Jahr 1801, unpaginierte Spalte 4. Siehe auch Deutschsprachige Texte aus Ungarn, Bd. 1, S. 335. (Hervorhebung L. T.) Gräfin J. v. P. [vermutlich: Johanna Freiin von Prönay geborene Gräfin von Teleky]: An die Erinnerung. In: Ungrische Miscellen. Hg. v. Dr. Johann Karl Lübeck. Pesth: Hartleben, 1805, H. 2, S. 94 f. In: Deutschsprachige Texte aus Ungarn, Bd. 1,5. 113 f. Die ausführliche Besprechung dieses und des folgenden Gedichtes wie auch deren Beziehungen zur deutschen und ungarischen Lyrik siehe in: Tarn6i, Läszlö: Parallelen, Kontakte und Kontraste. Budapest, 1998, S. 222-226. [-], Marie: Geständnis. In: Musenalmanach von und für Ungern auf das Jahr 1804, S. 14-16. In: Deutschsprachige Texte aus Ungarn, Bd. 1, S. 203 £. Vgl. dazu Tarnöi, Läszlö: „Unterhaltungslyrik der »eleganten Welt« in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts“. In: Impulse. Aufsätze, Quellen, Berichte zur deutschen Klassik und Romantik. Berlin / Weimar: Aufbau-Verlag, 1982, S. 222-252. (= Impulse, Bd. 4.) Dasselbe umgearbeitet in: Parallelen, Kontakte und Kontraste, S. 21-49. Vgl. dazu Tarnöi., Läszlö: „Aus dem Gragger-Nachlass. Marginalien in einem Gedichtband von Janos Kis.“ In: Berliner Beiträge zur Hungarologie, Bd. 2, 1987, S. 187-197. Für den Nachdruck im Bd. 2 der Schnittpunkte vorgesehen. + 59 +