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ARTEM GALUSHKO POLITISCHE JUSTIZ: DAS SOWJETISCHE ERBE Die „juristische Tradition“ der sowjetischen Schauprozesse ist gründlich erforscht.'? Aus den vorliegenden Untersuchungen zu Stalins Kampagnen gegen seine politischen Gegner lässt sich eine Reihe von informellen Praktiken der sowjetischen Strafgerichtsbarkeit ableiten: Gerichtliche Willkür bzw. Ungleichheit vor dem Gesetz: Wer in Opposition zu den herrschenden Eliten stand oder eine mögliche Bedrohung für diese darstellte, war dadurch prinzipiell benachteiligt. Voreingenommenheit zugunsten der Staatsanwaltschaft oder Anklage: Für Angeklagte galt statt einer Unschulds- eine Schuldvermutung. Geständnisse und Selbstbezichtigungen: Sie konnten jeglichen objektiven Beweis für die Schuld eines Angeklagten ersetzen. Außergerichtlicher Charakter von politischen Geheimprozessen, die als beschleunigte, vereinfachte Verfahren abgewickelt wurden. Wiedereinführung des Analogieprinzips in der Rechtsprechung. Politisch motivierte, punktuelle und willkürliche Amnestien oder Begnadigungen für bestimmte Angeklagte. Ex-parte-Kommunikation zwischen Staatsanwälten, Richtern und politischen Initiatoren von Schauprozessen. Die meisten dieser Merkmale finden sich, zusammen mit einigen neuen Praktiken politischer Justiz, auch in den jüngsten Verfahren gegen ukrainische Staatsbürger in Russland und auf der Krim wieder. WANDEL UND KONTINUITÄT DER POLITISCHEN JUSTIZ Neben den erwähnten Merkmalen der stalinistischen politischen Justiz, die zum Kernbestand der ungeschriebenen sowjetischen Verfassung zählen, sind die politischen Verfahren im Russland der Gegenwart auch durch einige neue Praktiken 18 Peter Solomon, Soviet criminal justice under Stalin, New York, NY, CUP, 1996; Peter Solomon, Soviet criminologists and criminal policy: specialists in policy-making, London, Macmillan, 1978; Christopher Osakwe, Prerogativism in modern soviet law: criminal procedure, Columbia Journal of Transnational Law 23 (1985), 331-352; Niels Rosenfeldt, The „Special“ World: Stalin’s Power Apparatus and the Soviet System’s Secret Structures of Communication, Copenhagen, Museum Tusculanum Press, 2009; Donald Rayfield, Stalin and his hangmen: the tyrant and those who killed for him, New York, NY, Random House Trade Paperbacks, 2004; Joshua Rubenstein — Vladimir Naumov (eds.), Stalin’s Secret Pogrom: The Postwar Inquisition of the Jewish Anti-Fascist Committee. Annals of Communism, New Haven, CT, Yale University Press, 2001; Alexander Yakovlev, A century of violence in Soviet Russia, New Haven, CT, Yale University Press, 2002. + 216 +