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LÁSZLÓ TARNÓI: SCHNITTPUNKTE. STUDIEN ZUR GERMANISTIK UND HUNGAROLOGIE

Nur mit der Eiche
Oder der Rebe
Sich zu vergleichen.

Auf dem Weg der Suche nach einem menschenwürdigen Leben lautet 1783
plötzlich der Satz: , Edel sei der Mensch / hülfreich und gut!" Und alsbald re¬
prásentiert sich auch das daraus folgende sittliche Ideal in der Gestalt der
Iphigenie.!! Der komplizierte Weg der allmählichen Distanzierung von der
Geniezeit und deren Vorstellungen ist damit vollendet. Aus Italien zurück¬
gekehrt liest der Verfasser des Götz von Berlichingen die Karl-Moor-Tragödie
eines jungen Dramatikers und versteht ihn nicht, nach eigenem Geständnis,
habe sie ihn sogar „äußerst angewidert“!?

Was auch immer auf Goethes unterschiedlichsten Wegen und überraschen¬
den Wendungen vor und nach der Iphigenie (1787) bzw. vor und nach der
ersten achtbändigen Werkausgabe (1788-1790) ungebrochen stets erhalten
blieb, war die konsequente Suche nach dem jeweils Höheren in seinen Leis¬
tungen und Erkenntnissen, wie sie z. B. in allen Etappen der 60-jährigen Ent¬
stehungsgeschichte des Faust nachzuweisen ist.'?

*

Schließlich hatte ich vor, im Rahmen der Konferenzthematik auch meine Wege
zu manchen Texten nicht zu unterdrücken. Und in der Tat habe ich das eigent¬
lich ja nicht getan. Goethes lyrische Kunst zog mich zeit meines Lebens in
ihren Bann und auch seine frühklassische Distanzierung vom Sturm und Drang
hat mich seit den 1970er Jahren tief beeindruckt, natürlich mit deren Krönung:
mit dem Göttlichen und der Iphigenie. Seither verstehe ich den größten unga¬
rischen Klassizisten, dass er seiner Tochter ihren Namen gab. Laufend ändern
sich die Zeiten, nicht minder die Lesarten historisch entstandener Texte: Ich
glaube, vor vier bis fünf Jahrzehnten gab es hierzulande noch so manche

!! Ich erlebe immer wieder als ein geistesgeschichtliches Wunder, wie sich die vielen individu¬
ellen „Wege“ der deutschsprachigen geistigen Elite unterschiedlichster Tendenzen und ver¬
schiedensten Alters in den achtziger Jahren plötzlich annähern. Man denke z.B. an Lessings
letzte Botschaft von 1780 („Erziehung des Menschengeschlechts“ $ 85), Goethes „Das Gött¬
liche“ von 1783 und seine „Iphigenie“ von 1787, an Schillers Freudenode von 1785 sowie u. a.
an Immanuel Kants „kategorischen Imperativ“ von 1788 in seiner „Kritik der praktischen
Vernunft“.

Goethe, Johann Wolfgang von: Biographische Einzelheiten. In: Goethe, Johann Wolfgang von:
Poetische Werke. Autobiographische Schriften. Bd. IV, Berlin / Weimar: Aufbau-Verlag, 1964,
S. 402. (= Berliner Ausgabe, Bd. 16)

Man müsste sich eben die Mühe geben, jeweils auch die unzähligen Wege der Leser im letzten
Vierteljahrtausend zu Goethe und zu seinen Wandlungen im Spiegel seiner Werke in Betracht
zu ziehen. Wie weit dies überhaupt zu leisten sei, bleibt hier notwendiger Weise eine offene
Frage. Man bedenke dabei nur, wie schwer überschaubar allein die vielen „wissenschaftlichen
Wege“ bzw. Zugänge der Germanisten zu Goethe in den vergangenen zwei Jahrhunderten,
etwa von Viktor Hehn bis Erich Trunz, sein dürften.

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